Gesundheitswesen 2008; 70 - A31
DOI: 10.1055/s-0028-1086256

Ethische Aspekte des Screenings – Prinzipien und Probleme am Beispiel des bayerischen Neugeborenenscreenings

I Brockow 1, B Liebl 2, M Wildner 1, A Zapf 1, U Nennstiel-Ratzel 1
  • 1Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Oberschleißheim
  • 2Bayerisches Staatsministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz, München

Einleitung: Das Neugeborenenscreening auf angeborene Stoffwechselstörungen und Endokrinopathien bezieht als Bevölkerungsscreening die gesamte Population „gesunder“ Neugeborener ein. Daraus ergeben sich andere ethische Fragen als bei einem strikt individualbezogenen Verfahren. Dieser Beitrag geht dem Erfüllungsgrad wichtiger biomedizinischer ethischer Prinzipien (Beauchamps und Childress; Autonomie, Gerechtigkeit) im Rahmen des bayerischen Modells nach. Methoden: Durch die Einführung der Tandemmassenspektrometrie ist ein Neugeborenenscreening auf eine Vielzahl von Stoffwechseldefekten in einem Untersuchungsgang möglich. Nicht für alle diese Defekte ist ein Screening nach den Kriterien von Wilson und Jungner sinnvoll. Für Deutschland ist eine Auswahl an screeningwürdigen Krankheiten in den Richtlinien über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern seit 2005 festgelegt. Dabei sind im Wesentlichen die Prinzipien des Nicht-Schadens und des Probandennutzens berücksichtigt. Für diese Auswahl müssen weitere ethische Prinzipien beachtet werden. Dazu gehören insbesondere die Information der Eltern (Autonomie) und die Verfügbarkeit für alle Neugeborenen in gleicher Weise (Gerechtigkeit). Dafür ist ein Tracking aller auffälligen Befunde bis zur endgültigen Abklärung und Sicherstellung des frühzeitigen adäquaten Therapiebeginns ein wichtiger Baustein. Ergebnisse: Die Einwilligungslösung mit verpflichtender Dokumentation stellt eine Beachtung der Elternautonomie in allen Fällen sicher. Das Screening wird wissenschaftlich durch Prüfung der Prozessqualität, Epidemiologie und Qualität der Nachsorge begleitet. Durch das in Bayern eingeführte Trackingverfahren durch den öffentlichen Gesundheitsdienst wurden in den letzten Jahren über 99% der in Bayern geborenen Kinder gescreent. Das Trackingverfahren ist insbesondere bei verlorenen Testkarten und ambulanten sowie Hausgeburten wichtig. Etwa 20% aller kontrollbedürftigen Befunde konnten erst durch Intervention des ÖGD abgeklärt werden. Betroffene Kinder werden durch jährliche Fragebögen in einer Langzeituntersuchung weiter beobachtet. Schlussfolgerung: Durch das Neugeborenenscreening in Bayern werden auch nach der Erweiterung des Screeningumfanges wichtige biomedizinische ethischen Prinzipien erfüllt. Insbesondere das etablierte Trackingverfahren des öffentlichen Gesundheitsdienstes unterstützt durch die Sicherung der Vollständigkeit und die zuverlässige Kontrolle auffälliger Befunde den Aspekt der Gerechtigkeit im Sinne einer Chancengleichheit für alle Kinder.