Gesundheitswesen 2008; 70 - A13
DOI: 10.1055/s-0028-1086238

Informierte Entscheidungen bei Betroffenen der Multiplen Sklerose (MS)

S Köpke 1, T Richter 1, J Kasper 1, 2, I Mühlhauser 1, C Heesen 2
  • 1Fachwissenschaft Gesundheit, Universität Hamburg
  • 2Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Einleitung/Hintergrund: Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische Erkrankung, die vornehmlich im jüngeren Erwachsenenalter beginnt. Krankheitsverläufe sind sehr variabel und kaum vorhersagbar. Weitere Ungewissheiten bestehen bezüglich der nur teil-wirksamen und nebenwirkungsreichen Therapieoptionen. Diese Situation erfordert den Einbezug von Betroffenen in krankheitsbezogene Entscheidungen im Sinne einer informierten Entscheidung bzw. eines Shared Decision Making. Hier gilt es, neben der unverzerrt dargestellten Evidenz die persönlichen Werte und Ziele der Betroffenen einzubeziehen. In den letzten Jahren haben wir mehrere Beobachtungsstudien mit MS-Betroffenen zu Präferenzen, Informationsbedürfnissen und Risikowissen sowie zur Rezeption evidenzbasierter Patienteninformationen durchgeführt. In zwei randomisiert-kontrollierten Studien wurden Entscheidungshilfen zur Immun- sowie zur Schubtherapie evaluiert. Die Entscheidungshilfe zur Schubtherapie bestand aus einer ausführlichen Informationsbroschüre und einem vierstündigen Gruppenschulungsprogramm. Es zeigten sich deutliche Effekte auf die Informiertheit, die Entscheidungsautonomie und die getroffenen Therapieentscheidungen. In einem Anschlussprojekt wurde die Implementierung des Programms evaluiert. Material und Methoden: Die Implementierung des Programms in MS-Zentren in Deutschland erfolgte durch die Ausbildung von Trainern in einem achtstündigen Train-the-Trainer-Programm (TTTP). Das TTTP beinhaltete die Teilnahme an einer Betroffenenschulung. Geschult wurden Angehörige aus Gesundheitsfachberufen. Die Evaluation erfolgte über 2 Jahre anhand von Fragebögen und telefonischen Befragungen. Ergebnisse: 31 Trainer haben an einem TTTP teilgenommen und 153 Betroffene geschult. Auf Trainerebene wurde die inhaltliche und formale Eignung des TTTP bestätigt. Bei Betroffenen führte die Teilnahme zu einem deutlichen Zuwachs an Wissen und Autonomiepräferenz. Die Effekte waren im Vergleich zur Primärstudie weniger ausgeprägt. Diskussion/Schlussfolgerungen: Das Schulungsprogramm konnte erfolgreich in verschiedene Zentren übertragen werden. Die Ergebnisse zeigen, dass auch in der Regelversorgung Betroffene durch die Teilnahme nicht verunsichert werden, sondern wissenschaftliche Ungewissheiten als Chance zu Autonomie wahrnehmen. Trotz der positiven Ergebnisse gibt es sowohl bei Versorgern als auch bei Selbsthilfeverbänden weiterhin Vorbehalte gegenüber dem Ansatz des Shared Decision Making sowie der informierten Entscheidung von MS-Betroffenen, wodurch eine weitreichende Implementierung des Programms erschwert wird.