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DOI: 10.1055/s-0028-1082332
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Editorial
Publication History
Publication Date:
08 September 2008 (online)
Das vorliegende Schwerpunktheft zum Thema Suchtpolitik war ein Experiment mit offenem Ausgang. Suchtforscher aus Deutschland wurden gebeten, sich einem jeweils ausgewählten Feld der Suchtpolitik – Tabak, Alkohol, Heroin und Glücksspiel – anzunähern und dieses aus Sicht der Suchtforschung zu bewerten. Dabei wurde ein Orientierungsrahmen vorgegeben, welche einzelnen Aspekte in den Beiträgen behandelt werden sollten, u. a. historische Entwicklung, rechtliche Grundlagen, Politik des Bundes und der Bundesländer, Positionen der Akteure, Forschungspolitik sowie Stand und Bedarf der Forschung.
Zunächst einmal war es offen, ob sich überhaupt genügend Autorinnen und Autoren finden lassen würden, die sich einem solchen Unterfangen stellen. Diese Sorge erledigte sich schnell – es gab mehr Zu- als Absagen. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön für diese Bereitschaft! Ferner bestand die Sorge, dass sich die Beiträge entweder in übertriebener Zurückhaltung wegen möglicher Interessenkonflikte (Politik als Auftraggeber) üben oder andersherum zu stark durch subjektiv gefärbte Kommentierungen geprägt sein würden. Beides stellte sich als unbegründet heraus. Im Gegenteil: Die vier Übersichtsarbeiten beleuchten – mit der nötigen Distanz – facettenreich und mit unterschiedlicher Akzentsetzung die jeweiligen Politiken. Herausgekommen sind differenzierende Bestandsaufnahmen, in denen gleichzeitig realistische Forschungsperspektiven formuliert werden.
Aus den vier Beiträgen lassen sich übergreifend folgende suchtpolitische Entwicklungen herausarbeiten, die in den letzten Jahren in Deutschland stattgefunden haben:
Die ergriffenen politischen Maßnahmen basieren zunehmend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Es gibt aber auch Ausnahmen, wie der politische Stillstand in Sachen Heroinbehandlung für Schwerstabhängige auf der Bundesebene oder der widersprüchliche politische Umgang bezüglich der verschiedenen Glücksspielprodukte zeigen. In der Politik haben strukturelle und verhältnispräventive Maßnahmen in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, vor allem in der Tabak- und Alkoholpolitik (Rauchverbote und Sonderabgaben). In diesem Zusammenhang wurde auch der Jugendschutz verstärkt. Das zeigt sich bei der Heraufstufung der Altersgrenze für den Erwerb von Tabakprodukten oder wird am Abgabeverbot von Lotterieprodukten an Minderjährige deutlich. Die Suchtpolitik wird teilweise von einer Kontroverse zwischen dem Bund und den Bundesländern bestimmt (z. B. in der Heroin- und in der Glücksspielpolitik). Die parteipolitischen Unterschiede sind dagegen in den letzten Jahren in den Hintergrund getreten. Es besteht ein Trend in Richtung einer „Föderalisierung der Suchtpolitik”– in jüngster Zeit sind z. B. die Kompetenzen der Länder bei der Nichtrauchergesetzgebung oder den Spielhallen gestärkt worden. Dies führt dann häufig zu unterschiedlichen Regelungen in den Bundesländern (häufig auch als „Flickenteppich” kritisiert).
Der letzte Punkt betrifft die Frage nach einer angemessenen und gut austarierten Zuständigkeitsstruktur in der Suchtpolitik. Es existieren hier komplexe rechtliche Regelungen, wobei es Politiken gibt (Heroin- und Alkoholpolitik), bei denen die Zuständigkeit vorwiegend beim Bund liegt, während bei der Tabak- und Glücksspielpolitik die Bundesländer stärkere Gestaltungsmöglichkeiten besitzen.
Lässt sich nun eine solche Föderalisierung der Suchtpolitik begrüßen? Prinzipiell schon – denn sie kann innovativ sein. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass viele suchtpolitische Reformen über die Bundesländer initiiert und dort neue Interventionen erstmals erprobt (Methadon, Gesundheitsräume) worden sind. Damit konnte die Vielfalt in der Suchtprävention, -hilfe und -therapie gestärkt werden. Solche Gestaltungsmöglichkeiten der Länder können ferner dazu beitragen, drogenpolitische Kontroversen zu entspannen, wenn unterschiedliche Lösungen in strittigen Fragen möglich erscheinen und diese sich dann im föderativen Wettbewerb bewähren könnten. Gerade dort, wo es im modernen Staat um mehr geht als um rechtliche Regulierung und finanzielle Zuteilung, erscheint die politische Gestaltung durch die Länder aufgrund deren größerer Nähe zu den Bürgern sinnvoll. Auch die Beteiligung der Betroffenen kann durch einen drogenpolitischen Kompetenzzugewinn der Länder verbessert werden: durch eine leichtere Überschaubarkeit der Zuständigkeiten und direkteren Kontakt zu den politischen Entscheidungsträgern. Das Beispiel der Heroinbehandlung zeigt, welche Konsequenzen eine zu starke Stellung des Bundesgesetzgebers haben kann: Es wird eine Behandlungsmethode, bei der ein Wirksamkeitsnachweis erbracht worden ist, blockiert, obwohl ein Großteil der Bundesländer und fast alle Großstädte seine regelhafte Einführung wünschen.
Korrespondenzadresse
Dr. J. Kalke
Institut für Interdisziplinäre Sucht- und Drogenforschung
FISD e.V.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Martinistr. 52
20246 Hamburg
Email: KalkeJ@aol.com