Psychiatr Prax 2024; 51(03): 168-170
DOI: 10.1055/a-2281-1519
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Geschwister psychisch erkrankter Menschen

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Wie schon der Titel verrät, widmet sich diese 2022 erschienene Monografie einer im Versorgungssystem sowie auch innerhalb ihrer Familien oft übersehenen, jedoch selbst oft gefährdeten Gruppe: den Geschwistern psychisch erkrankter Menschen (im Buch als „Mitgeschwister“ bezeichnet). Anders als die Eltern oder auch die Kinder psychisch Erkrankter werden deren Geschwister sowohl in der Forschung als auch im psychosozialen Versorgungssystem bei der Angehörigenarbeit oft nicht berücksichtigt, obwohl diese eine bedeutende, protektive Funktion für die erkrankten Geschwister einnehmen können und auch selbst nicht selten zur Hochrisikogruppe zählen. Diese Lücke wollen die Autor:innen Prof. Dr. Reinhard Peukert und Leonore Julius mit einer umfassenden Monografie zumindest teilweise schließen, indem sie die Situation der (erwachsenen) Geschwister psychisch erkrankter Menschen, häufig auftretende Themen und Konflikte im Leben darstellen, ergänzt um und eingeordnet in den gegenwärtigen Forschungsstand (in Deutschland wie auch international). Entstanden ist dieses Buch vor allem vor dem Hintergrund des Netzwerks von Geschwistern psychisch erkrankter Menschen (GeschwisterNetzwerk.de), einem Selbsthilfenetzwerk von Mitgeschwistern, das beide Autor:innen aktiv unterstützen.

Das Buch richtet sich an selbst betroffene Mitgeschwister, welche beim Verstehen ihrer eigenen Situation und bei der Suche nach Hilfe unterstützt werden sollen, als auch an deren Eltern, die Einblick in die Familiendynamiken bekommen und so die Situation der nicht erkrankten Geschwister besser verstehen sollen. Daneben sind Mitarbeitende des Versorgungssystems adressiert, die so die Belange der Mitgeschwister besser in den Blick nehmen und darauf reagieren können. Dozent:innen sowie Studierende können einen umfassenden Einblick in den aktuellen Stand der Geschwisterforschung und die aktuelle Hilfepraxis bekommen. Diese große Zielgruppe mit sehr unterschiedlichen Kenntnisständen ist der Grund für die starke Untergliederung des Buchs in 10 Hauptkapitel, was ein selektives Lesen erlaubt.

In diesem Buch wird ein Bottom-Up Ansatz gewählt, im Vordergrund stehen also immer die Erfahrungen der Betroffenen, welche vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Geschwisterforschung in Deutschland eingeordnet und interpretiert werden. Dies wird schließlich ergänzt durch den Stand der internationalen Forschung. Hierbei steht im Fokus stets das Verstehen der Situation der Mitgeschwister, ergänzt durch Erklärungsansätze aus den wenigen vorhandenen quantitativen Studien. Peukert geht hier auch ausführlich auf seine eigene Situation als Mitgeschwister seines schizoaffektiv erkrankten Bruders ein, die im Verlauf des Buches durchgehend spürbar ist und auch immer wieder thematisiert wird, sich allerdings nicht in den Vordergrund drängt. Im zweiten größeren inhaltlichen Teil wird die (relativ junge) Geschichte der Geschwisterforschung beleuchtet, welche sich vor allem aus dem Ansatz entwickelt hat, die Entstehung von psychischen Erkrankungen besser verstehen zu wollen, wobei Mitgeschwister also hauptsächlich als Vergleichsgruppe zu den erkrankten Geschwistern dienten. Deren subjektives Erleben spielte erst deutlich später eine Rolle in der Forschung, ausgehend von deskriptiven Biografien und Fallgeschichten. Auch in der quantitativ angelegten Forschung stand lange der Geschwistervergleich im Fokus. Auch die bildgebende Hirnforschung und die genetische Forschung zielten hauptsächlich darauf ab, das Verursachungsrätsel zu lösen. Nur kurz angerissen werden hier die epigenetische Forschung sowie die Resilienzforschung, die später im Buch jedoch noch eine wichtige Rolle spielen werden.

Im weitaus umfangreichsten Teil des Buches, „Mitgeschwister erleben die Erkrankung“, wird umfassend die Situation der Mitgeschwister bei Auftreten einer psychischen Erkrankung von Bruder oder Schwester beschrieben. Die Rolle der Geschwister wird ausführlich dargestellt, immer hinterlegt mit Zitaten von Betroffenen oder aus den von Mitgeschwistern geschriebenen Büchern. Deren besondere Lebenssituation wird dadurch eindrücklich und lebendig beschrieben. Aus den unterschiedlichsten Lebenslagen, Familienkonstellationen und subjektiven Empfindungen lassen sich dabei einige wiederkehrende, den Großteil der befragten Mitgeschwister betreffende Themen extrahieren. Besonders eindrücklich wird die Ambivalenz der Gefühle dem erkrankten Geschwister gegenüber beschrieben - von tiefer Trauer, Angst, Verleugnung, Verzweiflung bis zu gleichzeitig empfundener Liebe. Häufig tabuisierte Gefühle wie „Neid“ auf das erkrankte Geschwister (z. B. durch die erhöhte Aufmerksamkeit der Eltern) sowie Feindseligkeiten bis hin zu Aggression und der Wunsch, das erkrankte Geschwister wäre nicht mehr da, werden benannt. Zentral für das Erleben von Mitgeschwistern beschreiben die Autor:innen Zerrissenheit, das Dilemma, dem Geschwister einerseits nah sein und helfen zu wollen, andererseits das Erleben von Hilflosigkeit der Krankheit gegenüber und den Willen zur Gestaltung des „eigenen“ Lebens, also dem ständigen Austarieren von Nähe und Distanz zur Herkunftsfamilie. Allerdings wird auch immer wieder auf das unterstützende, protektive, möglicherweise genesungsfördernde Potential der Geschwisterbeziehung und die Möglichkeit des persönlichen Wachstums an den Herausforderungen verwiesen. Bewegend geschildert wird Angst: vor der Symptomatik der psychischen Erkrankung beim erkrankten Geschwister und dem Erleben von Wutausbrüchen und Gewalt (nicht ohne den Hinweis, dass das Gewaltrisiko nicht durch eine psychische Erkrankung an sich, wohl aber durch Begleitumstände wie Drogenmissbrauch, Umweltstressoren oder Gewalttätigkeit in der Vorgeschichte statistisch erhöht sein kann). Auch Angst vor dem Suizid des erkrankten Geschwisters (bei Suizidversuchen oder erfolgtem Suizid oft verbunden mit tiefen Schuldgefühlen) wird Thema. Ergänzend beschreiben die Autor:innen oft anzutreffende Angst davor, selbst ein erhöhtes Risiko für eine psychische Erkrankung zu tragen. Es folgt eine umfassende Darstellung des Forschungsstandes zum Vererbungsrisiko, wobei deutlich wird, dass das durchaus vorhandene erhöhte Risiko, selbst psychisch krank zu werden, nicht unbedingt (nur) auf eine genetische Ursache zurückzuführen ist, sondern dass vor allem die (selbst empfundenen) Belastungen eine große Rolle spielen. Laut Peukert wird die genetische Vulnerabilität beim Individuum deutlich überschätzt (z. B. haben Kinder von Mitgeschwistern kaum noch ein messbar erhöhtes Risiko, psychisch zu erkranken). Außerdem sollten statt des erhöhten Risikos eher die positiven Einflussmöglichkeiten des Lebensstils kommuniziert werden, wie es im nordamerikanischen Raum schon praktiziert wird. Hier schließt sich ein Exkurs in die Kenntnisse der epigenetischen Forschung an (unterstützt durch die Expertise von Prof. Dr. Klaus-Peter Lesch) welcher, wenn auch vor allem für ein fachlich vorgebildetes Publikum verständlich, umfassend über die Kenntnisse zur Vererbung von epigenetischen Veränderungen gibt. Weitere angesprochene Themen sind das „elterliche Schweigen“, die Schuldgefühle beim Erleben von eigenem Glück sowie die Rolle des sozialen Umfelds, hier vor allem Stigmatisierung und Schamgefühle.

Im nächsten, ebenso zentralen Kapitel des Buches wird die Rolle der Mitgeschwister im Kontext der Familie beschrieben, vor allem die Rolle der (expliziten oder impliziten) Erwartungen der Eltern und die Schwierigkeit des Thematisierens der eigenen Belastung gegenüber den meist selbst bis zu ihrer Grenze belasteten Eltern.

Folgerichtig aus den vorhergehenden Ausführungen stellen die Autor:innen im nächsten Kapitel die Auswirkungen dar, die die Situation der Mitgeschwister für deren Lebensweg haben kann. Die (zahlreichen) möglichen negativen Folgen stehen hier gleichwertig neben den möglichen positiven Folgen. Dieser realistische, ungeschönte aber gleichzeitig optimistische und hoffnungsvolle Blick auf das Leben und die Situation der Mitgeschwister zieht sich durch das ganze Buch. Es folgt ein umfassender, theoriegeleiteter Überblick über einzelne Coping-Strategien mit den jeweiligen Vor- und Nachteilen.

Abgerundet wird das Buch mit einem Kapitel über Hilfen – Stärken – Recovery für Geschwister. Hier werden in verschiedenen Intensitätsabstufungen Möglichkeiten zur Hilfe für Mitgeschwister aufgezählt und bewertet. Vor allem die Chancen des Austauschs mit ebenfalls Betroffenen werden herausgearbeitet. Es fehlt nicht die Kritik am professionellen Versorgungssystem in Deutschland, das – wie schon im Titel des Buches erkennbar – die Mitgeschwister von Patient:innen in den meisten Fällen weder sieht noch hört noch einbezieht. Verkannt wird dadurch die Ressource der Geschwister in der Unterstützung der Genesung des Erkrankten, versäumt wird die Früherkennung von Risiken für die Mitgeschwister selbst und ein frühzeitiges Reagieren darauf. Sehr konkrete, teilweise mit wenig Aufwand realisierbare Vorschläge und Hinweise werden gegeben.

Reinhard Peukert und Leonore Julius legen mit dem Buch „Geschwister psychisch erkrankter Menschen“ einen umfangreichen, umfassenden Beitrag zur Darstellung der Situation der Geschwister psychisch erkrankter Menschen vor. Das Ziel des Buches, einen Überblick über den Forschungsstand zu geben, vor allem aber die Situation und die immer wiederkehrenden Themen, die Mitgeschwister über die Lebensspanne beschäftigen, zu beschreiben, ist hier durchaus gelungen. Durch das ganze Buch zieht sich ein realistischer, nicht geschönter Blick auf die Belastungen und Risikofaktoren, immer ergänzt durch die Perspektive der Ressourcenorientierung und die Aufforderung, sich aktiv mit der eigenen Rolle zu beschäftigen, um handlungsfähig zu bleiben oder zu werden und das eigene Leben gestalten zu können. Den Anspruch, sowohl für die Zielgruppe der Laien als auch für die der Fachleute neue Erkenntnisse beizutragen, erfüllt das Buch weitgehend. Allerdings dürfte die streckenweise sehr komplexe und fachliche Sprache für Laien die Lesbarkeit einschränken. Auch die Einordnung der Qualität der zahlreichen Befunde und Studien scheint, trotz der ausführlichen methodischen Einleitung, für nicht-Fachleute nicht eingängig. Die vielen Zitate und Fallbeispiele machen das Buch streckenweise sehr lebendig und erhöhen die Lesbarkeit. Ein Werk, das viel vom Lesenden fordert (Einordnung der Studienlage, Wechsel zwischen empirischen Studien und Erfahrungsberichten, Exkurs in Genetik und Epigenetik), aber auch sehr umfassend das aktuelle – empirische und Handlungswissen – wiedergibt.

Für im Gesundheitssystem Tätige bietet das Buch einen detaillierten und eindrücklichen Einblick in mögliche Lebensthemen von Geschwistern psychisch Kranker, ergänzt durch einen guten Überblick über die (leider noch lückenhafte) Forschungslandschaft.

Das Buch kann über die Homepage des GeschwisterNetzwerks bestellt, aber auch kostenlos als PDF heruntergeladen werden. Es sei auch auf die online über die Homepage des GeschwisterNetzwerks frei einsehbare ergänzende Literaturliste verwiesen, die – direkt mit Links zu den Abstracts oder, wenn vorhanden, den Volltexten der verwendeten Publikationen versehen – dem interessierten Leser die Suche nach den verwendeten Originalquellen deutlich erleichtert.

Renate Schepker und Verena Gindele

E-mail: renate.schepker@zfp-zentrum.de



Publication History

Article published online:
12 April 2024

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