Dtsch Med Wochenschr 2024; 149(07): 346-347
DOI: 10.1055/a-2215-6738
Aktuell publiziert

Kommentar zu „Pharmakotherapie der Alkoholkrankheit“

Contributor(s):
Rüdiger Holzbach

Alkoholabhängigkeit betrifft rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland [1] und ist die häufigste Krankenhausdiagnose bei Männern. Obwohl es mit Acamprosat und Naltrexon 2 langjährig zugelassene medikamentöse Behandlungsoptionen gibt, erhalten nur 0,76% der Patientinnen und Patienten in einem Zeitraum von 6 Monaten nach Entlassung aus dem Krankenhaus mindestens einmal ein entsprechendes Mittel verordnet [2].

Die Arbeit von McPheeters zeigt anhand von einer großen Zahl an Studien und behandelten Patienten die Wirksamkeit von Acamprosat und Naltrexon. Das Maß der „Number needed to treat“, um einen Rückfall zu verhindern, erlaubt einen Vergleich der Erfolgsquote mit der Behandlungseffektivität anderer Therapien bei verschiedenen Erkrankungen. So müssen z.B. mit einem Lipidsenker (LDL-C-Ausgangswerten > 159mg/dl) 53 Menschen behandelt werden, um einen Todesfall zu verhindern [3]. Um ein neues Ereignis bei Schlaganfall- oder TIA-Patienten zu verhindern, müssen 92 Personen mit der Ticagrelor-/ASS-Kombination behandelt werden [4].

Obwohl die Behandlung mit Anti-Craving-Mitteln deutlich effektiver (und preiswerter) ist als Lipidsenkung oder Schlaganfall-Prophylaxe bei Risikopatienten, ist der Ansatz in der klinischen Versorgung (noch) nicht angekommen. Die zugrundeliegenden Studien zeigen eine Verdoppelung der Abstinenzquote im Vergleich zu Placebo.

Die Frage, die sich für den Versorgungsalltag aufdrängt: Warum werden diese Mittel nicht öfters verordnet? Die Studie von McPheeters kann dies naturgemäß nicht beantworten. Leider gibt es hierzu auch noch keine Forschung, sodass über die Gründe nur spekuliert werden kann. Ein wesentlicher Aspekt dürfte allerdings das Krankheitskonzept von Patienten und Behandlern sein. Nur wer Suchterkrankungen als eine mit neurobiologischen Veränderungen einhergehende Erkrankung versteht, die die freie Willensbildung bezüglich Beginn, Menge und Ende des Konsums einengt, wird zu Medikamenten greifen. Der Stand der Forschung macht deutlich, dass ein ausschließlich soziopsychologischer Behandlungsansatz den Patienten eine wirksame Therapie vorenthält. Ähnlich wie bei Depressionen sollten die unterschiedlichen Therapieansätze nicht als „entweder – oder“ verstanden werden, sondern gleichberechtigt Patienten angeboten werden.



Publication History

Article published online:
13 March 2024

© 2024. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany