Psychiatr Prax 2024; 51(01): 53-54
DOI: 10.1055/a-2195-2971
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Aufbruch in der Psychiatrie

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Um es vorwegzusagen: Dieses Büchlein sollten alle in der Psychiatrie Tätigen, also auch diejenigen in den Schaltstellen der Träger und Krankenkassen, Politiker und Journalisten lesen. Es erschien 2022 im Psychiatrie Verlag, hat absolut spannende 153 Seiten und kostet 20 Euro – also nur wenig mehr als eine Kinokarte!

Ohne das Buch nachzuerzählen, möchte ich versuchen, diese Meinung zu begründen:

Marie Rave-Schwank (MRS) hat ein „Erinnerungsbuch“ geschrieben, das viel mehr ist als der subjektive Bericht einer Zeitzeugin. Es ist

  • Geschichtsbuch – 60 sehr entscheidende Jahre Psychiatrie werden beschrieben –

  • es ist Handlungsanleitung und Mutmacher für Leitungspersonen, vor allem jedoch

  • ein Plädoyer, stets die Patienten und ihre Angehörigen ins Zentrum von Planungen und täglichem Handeln zu stellen.

  • Die Rolle des Pflegepersonals im klinischen Alltag und besonders bei Umgestaltungsprozessen wird mehrfach hervorgehoben.

Für die heutige Generation ganz kurz zur Person:

Als MRS 1960 ihre Ausbildung an der Universitätsklinik in Heidelberg (eine damalige „Nobeladresse“) zur Psychiaterin begann, waren die Verhältnisse in den Kliniken noch so wie vor und während der NS-Zeit, natürlich ohne Vernichtung der Kranken.

Sie war Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Lage der Psychiatrie und hier für den Bereich Pflege zuständig. Diese Enquete bezeichnet 1970 (immerhin ein viertel Jahrhundert nach Kriegsende) die Verhältnisse in den Psychiatrischen Kliniken als „menschenunwürdig“.

Sie war die erste Frau, die die Leitung eines Psychiatrischen Landeskrankenhauses (Riedstadt) übernahm und dort ganz praktisch begann, diese menschenunwürdigen Verhältnisse zu verändern. Später wird sie Chefärztin einer Psychiatrischen Abteilung an einem Allgemeinkrankenhaus – sie kennt also bestens die beiden unterschiedlichen Perspektiven.

Seit dem Jahr 2000 ist sie im „Ruhestand“. Die heute Aktiven – und hoffentlich Leser der Psychiatrischen Praxis - sind letztlich Zielgruppe dieses Buchs.

MRS schreibt sehr persönlich von sich, den Mitarbeitern und Patienten, ohne je vorwurfsvoll, larmoyant oder überschwänglich zu werden. Jede(r) in der Psychiatrie Tätige erkennt sich in so manch einer Situationsschilderung wieder. Sie beschreibt ihren Start in Riedstadt 1979 – und wir erleben eine „Anstalt“ mit allen ihren Schrecken“ (z. B. dem Pflegepersonal war es verboten, mit den Patienten Brettspiele zu spielen!) und wie sie als Chefärztin mit viel Optimismus und Veränderungswillen, am Widerstand der „Alten“ fast gescheitert wäre. Die Lesenden erfahren hier eine Grundregel: Kämpfe niemals allein! „Für jede Veränderung brauchst Du Verbündete“.

Wenn MRS aus ihrem Tagebuch zitiert, über Tiefs und Höhepunkte berichtet, wird es geradezu berührend, jedenfalls für all diejenigen, die damals wie sie um Veränderungen bemüht waren. Viele werden sich an ähnliche Situationen erinnert, wie gegen Vorurteile, Widerstand aus der Belegschaft, Skepsis bei den Angehörigen angekämpft werden musste.

Bereits die Kapitelüberschriften sind Programm:

„Sternstunden“, „Strukturveränderungen“, „Weiterbildung Fachkrankenpflege“, „Was ich von und mit Angehörigen gelernt habe“, „Exkurs: Internationale Psychiatrie – Italien, England, Schweiz“ seien hier nur als Beispiele genannt.

Fallvignetten z. B. „Das Geburtstagsschnitzel“, „die bipolare Hexe“, „der rote Kleinbus“ beleben das Buch ungemein (man freut sich schon auf die nächste kleine Geschichte) und zeugen von der schriftstellerischen Qualität der Autorin.

Durch die „Intimität“ ihres Berichts schafft MRS es gleichsam wie in einem Familienroman, einerseits die Spannung hochzuhalten und gleichzeitig eine ganze Epoche anschaulich zu beschreiben. Von der Verwahrpsychiatrie fernab der sozialen Kontakte und der Familie, zu Einbezug der Angehörigen und der Gemeinden, bis zur heutigen StäB, der Einbindung der Psychiatrie-Erfahrenen z. B. als Genesungsbegleiter (EX-IN), den organisieren Angehörigen, um letztlich das Fazit zu ziehen: „Die große Psychiatriereform ist es nicht geworden“. Es bleibt also noch genug zu tun.

Man kann einen roten Faden, ein ganz besonderes Anliegen der Autorin erkennen: Ohne das Pflegepersonal „mitzunehmen“, gelingt in einer Klinik kaum bis gar nichts. Ihr geht es dabei nicht nur um qualifizierte Weiterbildung z. B. zur Psychiatrie-Fachpflegekraft und kontinuierliche Fortbildung, ihr geht es vor allem auch um Einstellungen, um Umgang miteinander und mit den Patienten (Milieu auf der Station) und mit den Angehörigen, um wertschätzendes (nicht taktisches) Zuhören. All das kostet Zeit und klingt deshalb für heutige Ohren utopisch bzw. aus der Zeit gefallen. Immer wieder spürt man den Appell an Menschen in Leitungspositionen: Hört den Mitarbeiter*innen, Patient*innen, den Angehörigen zu, bezieht die lokale Politik mit ein, etabliert eine Fehlerkultur, was ohne Offenheit und gegenseitiges Vertrauen nicht geht, wehrt euch gegen ausschließlich ökonomisch motiviert Entscheidungen der Träger.

All dies wird ohne moralinen Unterton oder gar selbstlobend vorgetragen. MRS macht Mut, erkannte Missstände anzugehen und dabei den Fehler der „Einzelkämpferin“ tunlichst zu vermeiden. Sie selbst stand mehrfach vor dem Rauswurf – beschreibt wie sie Unterstützer gesucht und auch gefunden hat. Eindrucksvoll beschreibt sie den Widerstand der alteingesessenen Mitarbeiter gegen Veränderungen und wie Umschwung zum Mitmachen dennoch gelingen kann. Dabei gesteht sie in selten erlebter Offenheit Ängste und auch Fehler ein.

Mich hat das Kapitel „Patientenmorde“ ganz besonders beeindruckt. MRS zeichnet nach, wie groß auch hier der Widerstand war, die Patiententötungen in der Nazizeit konkret vor Ort aufzuarbeiten („Nestbeschmutzerin“, „Rufmord am Vorgänger“ v.a.m.). Erinnert sei hier an den Beginn ihrer Ausbildung bei v. Baeyer, Häfner, Kisker in Heidelberg, den Autoren das Standartwerks „Psychiatrie der Verfolgten“. Sie verweist in diesem Zusammenhang auch noch auf die bahnbrechenden Arbeiten M.v. Cranachs. Hinzu kommt ein überschaubares aber sehr bedacht zusammengestelltes Literaturverzeichnis, das so manche(n) hoffentlich zu weiteren wichtigen Publikationen führen wird.

Vieles von dem, was MRS als Errungenschaft beschreibt, erscheint uns heute als selbstverständlich, ja unumkehrbar. Aber ist es das wirklich?

Ein Wort noch zum Umschlag. Zu sehen ist nicht eine bedeutsam oder rebellisch in die Kamera schauende, sondern eine lachende Maria Rave-Schwank. Auch das eine bildhafte Aufforderung zum Mitmachen, Ausdruck des Optimismus dieser „Veteranin“ – trotz schwieriger Zeiten.

Erdmann Fähndrich, Berlin

E-Mail: erdmannfaehndrich@alice-dsl.de



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Article published online:
15 January 2024

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