Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 2023; 18(06): 497-500
DOI: 10.1055/a-2151-8597
Schritt für Schritt

Degenerative lumbale Spinalkanalstenose – Schritt für Schritt

Bernd Wiedenhöfer
,
Joachim Pfeil

Zentrale spinale Dekompression und Rezessuserweiterung

OP-Prinzip

Durch degenerative Veränderungen des Zwischenwirbelraums verliert dieser an Höhe. Osteophyten und eine Vorwölbung der Bandscheibe beengen den Spinalkanal von ventral. An den dorsalen Strukturen entstehen degenerative Veränderungen der Wirbelgelenke mit osteophytären Anbauten sowie eine Verdickung des Lig. flavum. Die Einengung des lumbalen Spinalkanals (Lumbalkanalstenose) oder der durch den Recessus lateralis abgehenden Nervenwurzel (Rezessusstenose) können durch eine degenerativ bedingte Spondylolisthese, Retrolisthese oder eine degenerativ bedingte Skoliose verstärkt werden. Durch dekomprimierende Eingriffe werden der Spinalkanal respektive der Recessus lateralis erweitert.


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Indikation

  • Die lumbale Spinalkanalstenose ist weniger durch Kreuzschmerzen als durch Glutealgien mit beidseitiger ischialgiformer und pseudoradikulärer Beschwerdesymptomatik sowie die Claudicatio intermittens charakterisiert. Bei zur Symptomatik passender Bildgebung (siehe OP-Planung) und ausgereizter konservativer Therapie ist die Indikation zur Dekompression gegeben.

  • Eine Einengung des Recessus lateralis imponiert klinisch als radikuläre Symptomatik. Übersehene Stenosen können Fehlschläge bei Diskotomien verursachen. Die mikrochirurgische Erweiterung des Recessus lateralis ist in dieser Situation (bei entsprechender Bildgebung, siehe OP-Planung) angezeigt.

  • Eine zusätzliche operative Spondylodese ist nur bei symptomatischen degenerativen oder postoperativen Instabilitäten (Olisthesen) notwendig. In diesem Fall besteht zusätzlich ein relevanter Rückenschmerz, ggf. mit pseudoradikulärem Schmerz.

  • Die am häufigsten betroffenen Etagen lumbal sind die Segmente L 4/L 5 und L 3/L 4.


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Kontraindikation

Der Erfolg dieser Operation ist im Wesentlichen von einer präzisen präoperativen Diagnostik und Indikationsstellung abhängig. Nur wenn die klinische Höhenlokalisation exakt mit der neurologischen und radiologischen Diagnostik korreliert und konservative Behandlungsoptionen ausgeschöpft sind, sind diese Eingriffe indiziert. Bei ausgeprägten Instabilitäten (z. B. Spondylolisthesen) oder gleichzeitig vorhandener dekompensierter sagittaler Imbalance sollten die dekomprimierenden Eingriffe nur im Verbund mit einer gleichzeitigen Spondylodese angewendet werden.


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Spezielle Patientenaufklärung

Ein Einreißen der Dura sowie eine Verletzung der Nervenwurzel sind bei diesem Eingriff möglich. Durarisse sind die häufigste Komplikation, insbesondere bei voroperierten Patienten. Bei engen Verhältnissen kann es während der Dekompression durch die Instrumente zu einer zusätzlichen Schädigung der neuralen Strukturen kommen. Passagere Blasenentleerungsstörungen werden beobachtet. Durch die Wegnahme stabilisierender Strukturen, insbesondere Teilen der kleinen Wirbelgelenke, kann eine Instabilität entstehen. Die Gefahr von Infektionen ist bei mikrochirurgischen Eingriffen gering. Postoperative Vernarbungen oder Rezidivstenosen sind möglich.

Die Erfolgsquote (gute und sehr gute Ergebnisse) der operativen Dekompression beträgt im Langzeit-Follow-up über mehr als 10 Jahre über 70%.


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OP-Planung

Grundlage ist eine umfassende neuroradiologische Diagnostik. Röntgenaufnahmen der LWS in zwei Ebenen, im Stehen, ggf. zusätzliche Funktionsaufnahmen in Re- und Inklination sowie zur Beurteilung der Gesamtbalance die Wirbelsäulenganzaufnahme, stehend in zwei Ebenen, sollten vorliegen. Am aussagekräftigsten sind die Kernspintomografie und die Funktionsmyelografie, die vorzugsweise kombiniert mit einer CT-Untersuchung durchgeführt wird (Myelo-CT). Hierbei sollte immer die gesamte lumbale Lendenwirbelsäule inklusive des lumbosakralen Übergangs dargestellt werden. Anhand der sanduhrförmigen Einschnürung(-en) ist eine Höhenlokalisation der Stenose(n) möglich. Am Dünnschnitt-CT lässt sich auch die Größe des Recessus lateralis beurteilen. Die Höhe im Rezessus sollte mindestens 4 mm betragen, Werte unter 3 mm sind immer pathologisch. Eine Weite des Spinalkanals zwischen 10–15 mm entspricht einer relativen Stenose, Werte unter 10 mm sind immer pathologisch. Wesentlich zur Planung ist dabei die Korrelation mit der klinischen Symptomatik. Die Einengung des Rezessus erfolgt meist durch osteophytären Anbauten am oberen Gelenkfortsatz, der kranial über den dazugehörigen Wirbelkörper und die Bandscheibe hinausragt. Anhand der klinischen Symptomatik und dieser exakten Voruntersuchung erfolgt die Differenzialindikation zur Rezessuserweiterung oder zentralen Dekompression ([Abb. 1]).

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Abb. 1 a, b Einengung des Spinalkanals und des Rezessus durch degenerative Veränderungen. a Normalbefund. b Spinalkanalstenose.

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Spezielle Instrumente und Implantate

Der knöcherne Zugang erfolgt, mikroskopisch gestützt, mittels Hochgeschwindigkeitsfräse (Rosenkopf und/oder Diamantkopf) Rongeuren, Penfield-Dissektoren und/oder Knochenstanzen (Größe: 2, 3 und 4 mm).


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OP-Technik

Lagerung

Bauchlage, Unterstützung von Thorax und Becken, sodass das Abdomen nicht komprimiert wird und somit keine vermehrte Blutungsneigung entsteht. Eine entlordosierte Lagerung erleichtert die Präparation (Knie-Ellenbogen-Lage ist nicht notwendig; bei Kombination mit einer Spondylodese sollte die Entlordosierung wegen der Gefahr der Fusion in Fehlstellung (bedingt durch fehlende Lordose) nicht durchgeführt werden).


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Zugang

Höhenlokalisation unter Röntgenbildwandlerkontrolle. Medialschnitt über den betroffenen Segmenten. Bei geplanter Laminotomie einseitige subperiostale Darstellung der betroffenen Wirbelbögen einschließlich der Wirbelgelenke und des interlaminären Fensters auf der Seite der prädominanten Symptomatik. Erweiterung des interlaminären Fensters und Ausdünnen der medialen Gelenkfacette, Entfernung des Lig. flavum mittels Mikrostanzen.

Dekompression der kontralateralen Seite („Undercutting“) mit Knochenstanzen („Over-the-Top“-Technik). Zur Rezessuserweiterung mit einseitiger klinischer Symptomatik genügt die einseitige Darstellung analog zur Mikrodiskektomie.


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Durchführung

Rezessuserweiterung

Darstellung des Lig. flavum ([Abb. 2]). Vom kranialen Wirbelbogen wird der Unterrand abgetragen, danach ca. ⅓ des zugehörigen unteren Gelenkfortsatzes bis einschließlich der Gelenkfläche ([Abb. 3]). Darunter wird dann der obere Gelenkfortsatz mit seinen osteophytären Anbauten sichtbar. Wegen der engen Verhältnisse im Rezessus muss die Resektion vorsichtig erfolgen, entweder mit Stanzen mit kleinem Hub oder unter Einsatz einer Fräse mit kleinem Diamantkopf. Die Resektion sollte so weit durchgeführt werden, dass die abgehende Nervenwurzel keine Verengung mehr zeigt. Die Resektion am Gelenk sollte sparsam erfolgen, da ansonsten die Gefahr einer postoperativen Instabilität besteht. Ist die Nervenwurzel gut zu dekomprimieren, besteht keine Notwendigkeit, kleinere Bandscheibenprotrusionen zusätzlich anzugehen.

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Abb. 2 Einengung des Recessus lateralis mit Kompression der Nervenwurzel durch Anbauten am kranialen Gelenkfortsatz. 1 = N. spinalis L5 (im verengten Recessus lateralis), 2 = mediale spondylotische Randzacken, 3 = Processus articularis superior vertebrae lumbalis 5, 4 = normaler Recessus lateralis
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Abb. 3 Teilresektion des Wirbelgelenks zur Erweiterung des Rezessus. 1 = Processus articularis superior vertebrae lumbalis 4, 2 = Processus articularis inferior vertebrae lumbalis 4, 3 = osteophytäre Anbauten L 4/L 5, 4 = N. spinalis L 5, 5 = Discus intervertebralis

Laminotomie

Auf Höhe der Stenose wird der Wirbelbogen wie im Absatz „Zugang“ beschrieben laminotomiert. Die an das interlaminäre Fenster angrenzenden Wirbelbogen werden mittels Knochenstanzen bis zum Ansatz des Lig. flavum und lateral bis zum medialen Pedikelrand reseziert. Das Lig. flavum wird mit der Knochenstanze bis zu den Gelenken hin entfernt. In gleicher Technik werden Teile der hypertrophen Gelenke reseziert. Eine gleichzeitige Chirurgie der Bandscheibe birgt die geringe Gefahr einer zusätzlichen Instabilität, kann aber bei entsprechender Pathologie und Klinik in gleicher Sitzung lege artis erfolgen. In der Regel kann bei im Vordergrund stehender Glutealgie, Radikulopathie und/oder Claudicatio spinalis auf eine Fusion verzichtet werden, wenn die Gelenke zu ⅔ erhalten bleiben. Bei präoperativ bestehenden symptomatischen Instabilitäten und/oder relevanten Rückenschmerzen ist die gleichzeitige Fusionierung mit transpedikulärer Instrumentation und TLIF (Transforaminale lumbale intersomatische Fusion) angezeigt.

Wundverschluss

Bei vermehrter intraoperativer Blutung oder bereits präoperativ notwendiger Antikoagulation ist die Einlage einer epiduralen Redon-Drainage angezeigt. Ansonsten wird die Einlage von Redons heute sehr kontrovers diskutiert. Bei blutarmen Operationen besteht die Tendenz zum Verzicht auf die Drainage. Optional kann Auflage von Kollagenvlies auf die sichtbare Dura erfolgen. Naht der Faszie, Subkutannaht und Intrakutannaht.


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Tipps und Tricks

Hilfreich ist es, am Wirbelsäulenmodell die zur Resektion anstehenden Partien einzuzeichnen. Dies erleichtert die intraoperative dreidimensionale Orientierung.

Für das Undercutting zur kontralateralen Seite in der Over-the-Top-/Cross-over-Technik sollte der Tisch soweit zur Gegenseite gekippt werden, dass unter Schutz des Dissektors freier Einblick mit dem Mikroskop besteht. Der Patient muss dafür ausreichend auf dem OP-Tisch gesichert werden, ggf. durch Seitenstützen.


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Häufige Fehler und Gefahren

Insbesondere nach Voroperation, zum Teil aber auch bei Erstoperationen können Adhäsionen der Dura bestehen. Vor der Flavumentfernung sollten die Duraränder ausgetastet und etwaige Verklebungen gelöst werden, da ansonsten die Gefahr einer Duraverletzung besteht.


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Alternativmethoden

Im Rahmen der konservativen Therapie werden Flexionskorsette mit sehr begrenztem Erfolg angewendet. In Flexion sind die Zwischenwirbelräume erweitert. Antiphlogistika, spinale epidurale Injektionen und Katheterapplikationen können eine symptomatische Spinalkanalstenose bei Ablehnung der Operation oder relevanten Kontraindikationen temporär verbessern. Gewichtsreduktion und körperliche Aktivität (Fahrradtraining) sind hilfreich.


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Peri- und postoperative Nachbehandlung

  • Thromboseprophylaxe mit Low-Dose-Heparin

  • Aufstehen des Patienten am Operationstag ohne Hilfsmittel

  • Bettruhe für 24 Stunden nur bei intraoperativen Duraverletzungen und Duranaht und/oder Durapatch, danach Mobilisation unter Monitoring des Auftretens eines möglichen Liquorverlustsyndroms

  • Ggf. Laxanzien bei anamnestisch bekannter Obstipation bis zum ersten Stuhlgang

  • Medikamentöse Therapie mit Antiphlogistika und Medikamenten entsprechen den WHO-Empfehlungen

  • Steigerung der Aktivitäten in Abhängigkeit von der Beschwerdesymptomatik

  • Vollbelastung und Sport nach 2–6 Wochen, bei Spondylodese nach 12 Wochen


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Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
26. Oktober 2023

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