Nervenheilkunde 2023; 42(12): 823-825
DOI: 10.1055/a-2136-5364
Zu diesem Heft

Was gibt Sicherheit? Umgang mit Gewalt und Aggression

Anna Oster
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Lieselotte Mahler
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Susanne Menzel
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Peter Brieger
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Anna Oster Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie Kliniken im Theodor-Wenzel-Werk, Berlin; Foto: ©privat
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Dr. Lieselotte Mahler Chefärztin Psychiatrie und Psychotherapie Kliniken im Theodor-Wenzel-Werk, Berlin; Foto: ©Theodor-Wenzel-Werk e.V.
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Dipl.-Psych. Susanne Menzel kbo-Isar-Amper-Klinikum Region München Akademisches Lehrkrankenhaus der LMU München; Foto: ©privat
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Prof. Dr. Peter Brieger Ärztlicher Direktor, Kbo-Isar-Amper-Klinikum, Akademisches Lehrkrankenhaus der LMU, Haar; Foto: ©privat

Wir leben in unruhigen Zeiten: Die Pandemie liegt kaum hinter uns, Klimawandel, Krieg und deren Auswirkungen beherrschen die Schlagzeilen und belasten die Menschen; eine zunehmende Anspannung und Bedrohungserleben sind in manchen Situationen und Bereichen der Gesellschaft spürbar. In welcher Hinsicht gilt dies auch für die Psychiatrie? Gibt es tatsächlich eine Tendenz z. B. hin zu mehr Aggression und Gewalt oder werden wir einfach nur immer unsicherer? Die Frage nach solchen Trends soll in diesem Heft beleuchtet werden. Es geht aber auch darum, ganz grundsätzliche Fragen zum Thema neu zu diskutieren. Die „totale Institution“, die Goffman beschrieben hatte, übt aus sich heraus Zwang und Gewalt aus. Viele Jahre waren Gewalt und Zwang in der Tat „selbstverständliche“, wenig hinterfragte Aspekte der Krankenhauspsychiatrie. In den letzten Jahren finden diese Themen, auch im Zuge der „Neuentdeckung“ der Menschenrechte für die Psychiatrie zunehmend Beachtung, und die wachsende Bedeutung des Trialogs für den Diskurs führt zur Erweiterung der Perspektiven und dazu, einander besser zuzuhören. Die Themen, die sich daraus entwickeln sind vielfältig: Wie wollen wir miteinander arbeiten? Wie gewährleisten wir Sicherheit? Wieviel Aggressivität, aber auch wieviel Zwang akzeptieren wir? Wie will ich als Psychiatrieerfahrener in einer Krise „behandelt“ werden? Welchen Einfluss hat der zunehmende Fachkräftemangel? Was haben wir dem entgegenzusetzen? Gibt es auch konstruktive Beispiele von good clinical practice? Mit diesem Heft möchten wir ein paar dieser Aspekte beleuchten.

Zunächst stellen Anastasia Theodoridou und Matthias Jäger die Konzeption einer „Psychiatrie ohne Zwang“ dar und diskutieren diese hintergründig. Kann es eine „Zero-Zwang“-Psychiatrie geben? Jeder von uns wünscht sie sich, ist sie aber umsetzbar? Stephan Debus und Hendrik Meyer haben als Semiotiker einen ganz eigenen Zugang zu Zwang und Gewalt. Ihr Beitrag geht mit seiner ganz eigenen Methodik heran, Situationen umfassend zu analysieren, die „in aggressivem Verhalten enden“. Die Herangehensweise ist ungewöhnlich, eröffnet aber neue Perspektiven. André Nienaber und Irmi Breinbauer diskutieren das Sicherheitsgefühl multiprofessioneller Teams auf Akutstationen. Wie erleben Fachkräfte im Alltag Zwang und Gewalt? Was macht das Erlebte mit ihnen? Welche Ansätze gibt es für einen konstruktiven Umgang mit dem Thema? Thomas Bock und Gwen Schulz diskutieren aus unterschiedlichen Perspektiven zum Sicherheitsgefühl, ganz zentral ist hier die Expertise der Psychiatrieerfahrenen. Susanne Menzel und Peter Brieger fragen sich, wie mit Straftaten durch Patienten im Rahmen der Klinikbehandlung umgegangen werden kann und berichten von Überlegungen zur Anzeige solcher Straftaten durch Klinikpersonal. Der Beitrag von Sebastian Rüegg thematisiert den Umgang mit Gewalt und Zwang in der Ausbildung. Dieser Aspekt scheint uns ganz besonders wichtig, da es einen Kulturwandel bedeutet, diesem Thema in seinen verschiedenen Aspekten regelhaft größere Abschnitte in der Ausbildung zu widmen. Das Heft wird abgeschlossen vom Beitrag von Michael Mayer und Gernot Walter, die die Weiterentwicklung von Deeskalationstrainings, vom Training von Abwehrtechniken zur deeskalativen Kommunikation, beleuchten. Abgeschlossen wird das Heft mit dem Beitrag von Lieselotte Mahler und Anna Oster: Was brauchen wir für mehr Sicherheit in der Akutpsychiatrie (und was nicht). Die beiden Autorinnen beleuchten insbesondere die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Sicherheitsdiensten in der Akutpsychiatrie und stellen alternative Vorgehensweisen vor, wie Sicherheit zu gewährleisten ist.

Das Heft ist alles andere als komplett; viele Themen bleiben offen, so beispielsweise die gesamtgesellschaftliche Einordnung von Gewalt- und Bedrohungsphänomenen, oder die Situation vulnerabler oder marginalisierter Gruppen (Gender, Migration, soziale Lagen, Diagnosen usw.). Das Thema Zwang und Gewalt hat viele Dimensionen und unser Bestreben war, einige dieser Strömungen und Perspektiven zusammen zu bringen. Wir wünschen eine anregende Lektüre und freuen uns auf Diskussionen.

Anna Oster, Berlin, Lieselotte Mahler, Berlin, Susanne Menzel, Haar, und Peter Brieger, Haar



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Article published online:
13 December 2023

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