Balint Journal 2023; 24(02): 47-52
DOI: 10.1055/a-2119-5504
Deutscher Balint-Preis

Schwimmer in den wilden Fluten – Selbstbestimmung im Krankenhausalltag

Swimmers in the Wild Waters – Self-Determination in Everyday Hospital Life
Veronika Wiemker

Exposition

Enttäuschte Hoffnung

Die Oberärztin lässt eine kurze Stille entstehen, bevor sie die Mappe beiseite schiebt: „Tja. Die Entlassung hätten wir ihm alle gegönnt. Aber jetzt brauchen wir eine Nierenbiopsie.“ Am Vormittag ist Yanniks Temperatur plötzlich angestiegen. Die Ursache des Fiebers – erneute Abstoßungsreaktion? Infektion? – ist unklar. Klar ist aber: Nach Hause kann der Elfjährige nicht. Ich merke schnell, dass ich nicht die Einzige im Team bin, die diese Neuigkeit erst einmal verarbeiten muss.

Den letzten Teil meines praktischen Jahres, die Wochen vor dem Sprung in die Verantwortung als Ärztin, verbringe ich hier auf der Kindernephrologie eines großen Universitätskrankenhauses. Am Vortag habe ich Yannik Blut abgenommen. Schelmisch blinzelte er unter dem Kissen hervor, das er sich übers Gesicht gezogen hatte. Er wirkte schmal und etwas blass, trotzdem erstaunlich energiegeladen.

Wie viele Kinder auf unserer Station hat Yannik eine Nierentransplantation hinter sich. Die Operation ist erst wenige Wochen her. Nach einer schweren frühen Abstoßungsreaktion ist er maximal immunsupprimiert. Heute, nach fast acht Wochen Krankenhausaufenthalt, sollte er eigentlich entlassen werden. Gestern Abend hat mir seine Mutter, eine warme, gelassene Frau, lächelnd erzählt, dass er den Entlassungstag seit Wochen herbeisehne. Ich habe mich mit den beiden gefreut.

In Yanniks Zimmer erklärt die Oberärztin Yannik und seiner Mutter die neue Situation. Yannik schnaubt wütend durch die Nase. Dann starrt er die Wand an. Nach einigen Sekunden scheint die Enttäuschung aus ihm herauszubrechen: „Nein! Auf gar keinen Fall! Ich will nicht für immer in diesem Krankenhaus leben! Ihr habt gesagt, letzte Woche war die letzte Biopsie! Das ist mein Körper, ich lasse euch da nicht ran!“

Er stampft mit den Füße auf den Boden. Als ich vorsichtig eine Hand auf seinen Arm lege, schleudert er mir einen vor Verachtung blitzenden Blick entgegen. Unsere Oberärztin widerspricht seinem Ausbruch nicht. Sie nickt nur als Zeichen, ihn gehört zu haben. Sie und die Mutter, zwei Frauen in ähnlichem Alter, stehen schweigend zusammen – ich habe das Gefühl, die Verbindung zu spüren, die aus der geteilten Sorge um Yannik entsteht.


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Publication History

Article published online:
04 September 2023

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