Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/a-2058-9908
Vesikovaginale Fisteln
Vaginale operative Versorgung, ggf. mittels Martiuslappen – vaginaler Zugang
Steckbrief
Fisteln des unteren Harntraktes sind selten. In Industrieländern sind sie in über 80% auf chirurgische Eingriffe zurückzuführen und nur in 8% Folge einer Geburt. Sie treten in 0,25–2% nach beckenchirurgischen und in 0,005–1% nach gynäkologischen Eingriffen auf. In Entwicklungsländern ist die Geburt die primäre Ursache für das Auftreten von Fisteln.
Es gibt einfache, leicht zu korrigierende Fisteln, komplizierte und komplexe Fisteln. Zu den komplizierten Fisteln zählen Fisteln, die die Urethra, den Ureter oder die Zervix involvieren, Fisteln > 4cm im Durchmesser, Rezidivfisteln und Fisteln nach Bestrahlung. Postoperative Fisteln sollten entweder sofort innerhalb von 48–72 Stunden oder verzögert nach 3–4 Monaten operiert werden. Radiogene Fisteln sollten frühestens nach 6–12 Monaten operiert werden.
#
Synonyme
-
Blasen-Scheiden-Fistel
-
Harnröhre-Scheiden-Fistel
-
gynäkologische Fisteln
-
Fisteln des unteren Harntraktes der Frau
-
-
Eingriff über die Scheide
-
vaginales Vorgehen
-
vaginaler Zugangsweg
-
-
Martius-Plastik
-
Martius-Interpositionslappen
-
Deckung mittels labialen Fettlappens
-
Lappenplastik
-
Bulbocavernosus-Fettlappenplastik
-
#
Keywords
-
vesikovaginale Fistel (VVF)
-
vaginaler Zugang
-
urogenitale Fistel
-
iatrogene Harninkontinenz
-
Martius
-
Martiuslappen
-
Martiusplastik
-
Martius-Interpositionslappen
-
Interposition
-
Interponat
-
Fettlappenplastik Musculus bulbocavernosus
#
Definition
-
Vesikovaginale Fisteln (VVF) stellen eine Unterform der urogenitalen Fisteln der Frau dar.
-
VVF sind abnormale Verbindungsgänge zwischen der Blase und der Vagina, die u.a. zu einem kontinuierlichen Urinverlust über die Vagina führen.
-
Zusätzlich zu den medizinischen Konsequenzen ist die vesikovaginale Fistel auch für das soziale, emotionale und psychische Erleben der Patientin eine Herausforderung.
#
Indikationen
-
Die operative Versorgung einer vesikovaginalen Fistel ist allein aufgrund der ausgeprägten Harninkontinenz mit meist schwerer Beeinträchtigung der Lebensqualität der betroffenen Patientinnen sinnvoll.
-
Indiziert ist die vaginale Operationstechnik bei einfachen, distal gelegenen Fisteln.
-
Im Vergleich zum abdominalen Zugang ist der vaginale Zugang für die Patientin weniger belastend.
-
Bei bestrahlten Patienten ist prinzipiell ein Fistelverschluss möglich, die Deckung sollte mit einem gut vaskularisierten Muskellappen erfolgen (M. gracilis flap).
#
Kontraindikationen
-
Alternative zu einem operativen Fistelverschluss ist die dauerhafte Harnableitung, sodass der mehrfach frustrate Verschluss eine Indikation zur dauerhaften Harnableitung darstellt.
-
Außerdem sollten in jedem Falle auch die Komorbiditäten der Patientinnen in die Therapieplanung mit einfließen.
-
Eine radiogen induzierte unzureichende Blasenkapazität oder niedrige Compliance stellen eine Kontraindikation zum Fistelverschluss dar.
-
Hier ist eine primäre Harnableitung mit Transversumkonduit/-pouch sinnvoller.
-
-
akute Kontraindikationen:
-
Hier sollte der Fistelverschluss erst verzögert bei reizlosen lokalen Verhältnissen durchgeführt werden.
-
akute Infektionen
-
Inflammation und Ödeme
-
Inkrustierung der Fistelfläche
-
Nekrosen
-
-
-
weitere Kontraindikationen zum vaginalen Zugang
-
komplizierte, große (> 4cm) Fistelverläufe
-
die Beteiligung anderer Strukturen im Becken
-
die Notwendigkeit einer Ureterozystoneostomie
-
eine Vaginalstenose
-
eine unzureichende Darstellung der Fistel von vaginal
-
-
Zustand nach mehrfachen frustranen Fistelverschlüssen
-
eingeschränkte Narkosefähigkeit und Operabilität (Komorbiditäten)
-
akute lokale Infektion
-
sehr schlechte lokale Voraussetzungen (Zustand nach Bestrahlung)
-
komplizierte, großlumige (>4cm) Fisteln
-
Beteiligung anderer pelviner Strukturen
-
kleine Blasenkapazität, erniedrigte Compliance
-
notwendige Ureterozystoneostomie
-
Vaginalstenose
-
schlechte Sichtverhältnisse
#
Anästhesie
-
Allgemeinanästhesie
-
Spinalanästhesie
#
Aufklärung und spezielle Risiken
-
Blutungen, Hämatome
-
Schmerzen, Dyspareunie
-
Infektionen, Wundheilungsstörungen, Sensibilitätsstörungen
-
Thrombose und Embolie
-
sexuelle Dysfunktion
-
Neuauftreten einer Harninkontinenz, Progression einer Stress- oder Dranginkontinenz
-
Rezidiv einer Fistel
-
verringerte Vaginallänge und Kaliber
-
asymmetrische Labien
#
Präoperative/präinterventionelle Diagnostik
-
Standarddiagnostik
-
vaginale Untersuchung
-
Sonografie des oberen Harntraktes
-
Urethrozystoskopie
-
Zystogramm/Miktionszystourethrogramm (MCU)
-
Tamponprobe mit Methylenblau: 3 Tampons werden hintereinander in die Scheide eingeführt, danach die Blase mit Methylenblau gefüllt und die Tampons nacheinander entfernt. Ist nur der unterste Tampon blau, handelt es sich um eine distale Fistel; ist der oberste Tampon blau, liegt die Fistel kranial.
„Kondomzystoskopie“: Über die Spitze des Zystoskops wird ein Kondom gestülpt und mit einer Naht am Schaft fixiert. Bei Öffnung der Spülung fließt die Flüssigkeit in das Kondom, welches mit zunehmender Füllung transparenter wird und eine Sicht gewährleistet. Damit lässt sich die Blase auffüllen, ohne dass die Spülflüssigkeit direkt durch die Fistel über die Vagina wieder abfließt, und die Fistel lässt sich leichter visualisieren.
Beim MCU immer seitliche Aufnahme, sonst kann die genaue Fistellokalisation nicht identifiziert oder die Fistel sogar übersehen werden.
-
erweiterte Diagnostik
-
intravenöses Pyelogramm/retrograde Pyelografie bei Verdacht auf ureterovaginale Fistel
-
vaginale/rektale Sonografie
-
(Kontrast-)CT/MRT
-
bei Involvierung des Rektums auch Rektoskopie, wässriger Kolon-KE
-
ggf. Hysteroskopie/Hysterografie
-
Pap-Abstrich zum Ausschluss gynäkologischer Malignome
-
#
Material
-
lange, schmale Instrumente
-
suprapubischer Katheter (10 Charr.) zur postoperativen Harnableitung
-
selbsthaltende Vaginalspekula mit einem Blatt und Gewicht (z.B. Scherbak) für den vaginalen Zugang
-
Nahtmaterial
-
monofiles Nahtmaterial der Stärke 3/0 und 4/0, z.B. Biosyn, Monocryl
-
#
Durchführung
-
Lagerung
-
Umschneidung der Fistel und Trennung von Blase und Vagina
-
Blasenverschluss
-
Blasenverschluss und Fisteleinstülpung (nach Füth-Mayo)
-
Blasenverschluss nach Fistelexzision (nach Sims-Simon)
-
-
optional: Hautinzision über dem Labium majus und Präparation eines gestielten Bulbocavernosus-Fettlappens nach Martius, Deckung des Fistelverschlusses und gegenläufige Naht der Vagina
Vor Beginn des Eingriffs
-
antibiotische Single-Shot-Prophylaxe
-
sterile Abdeckung mit freiem Zugang zur Vagina
-
sterile Einlage eines transurethralen Blasenkatheters
-
suprapubischer Katheter (10 Charr.) zur postoperativen Harnableitung
-
Blutverlust ohne schwere Komplikationen minimal, keine Blutkonserven erforderlich
#
Chirurgische Anatomie
-
siehe ab [Abb. 1]
#
Zugangswege
-
vaginal
#
Lagerung
-
klassische Steinschnittlage
#
Schnittführung
-
zirkuläre Umschneidung der Fistel in ausreichendem Abstand von 0,5–1cm ([Abb. 1])
#
Operationsschritte
-
Folgende Verfahren werden hauptsächlich eingesetzt:
-
nach Füth-Mayo mit Einstülpung des Fistelkanals
-
nach Sims und Simon mit Exzision des Fistelkanals und des gesamten Narbengebietes
-
hohe Kolpokleisis nach Latzko mit Obliteration der Vagina
-
In sehr seltenen Fällen kann ein kombinierter Zugang (abdominal und vaginal) erforderlich werden.
-
-
Nach Einsetzen eines selbsthaltenden Spekulums erfolgt die zirkuläre Umschneidung der Fistel in ausreichendem Abstand von 0,5–1cm ([Abb. 1]). Die weitere Präparation im Spatium vesicovaginale trennt die Vagina von der Blase.
-
Fistelverschluss nach Füth-Mayo:
-
Nach ausreichender Mobilisation wird der Fistelkanal mit der präparierten Manschette in die Blase eingestülpt und die Blasenwand mit resorbierbaren Einzelknopfnähten (monofiles Nahtmaterial der Stärke 3/0) quer zweireihig verschlossen ([Abb. 2]).
-
Die Scheidenwand wird längs mit Einzelknopfnähten der Stärke 3/0 verschlossen ([Abb. 3])
-
-
Technik nach Sims und Simon mit Exzision des Fistelganges:
-
Nach sparsamer Mobilisation der Scheidenwand wird die Fistel exzidiert und die Fistelöffnung schichtweise verschlossen ([Abb. 4]).
-
-
Bulbocavernosus-Fettlappenplastik nach Martius:
-
Längsinzision der rechten großen Labie und allseitige Präparation des Fettmuskellappens ([Abb. 5])
-
Dieser bleibt kaudal gestielt.
-
-
dienen als Füll und Polstermaterial für Hohlräume,
-
bringen gut durchblutetes Gewebe an den Ort des Fistelverschlusses,
-
bilden eine Trennschicht zwischen Blasen- und Vaginalnaht.
-
Der präparierte Lappen wird nach Untertunnelung der Hautbrücke in das vaginale Wundbett auf die verschlossene Fistel verlagert ([Abb. 6]).
-
Der Lappen wird an der perivesikalen Faszie mit Einzelknopfnähten fixiert und die Hautinzision an der großen Labie verschlossen ([Abb. 7]).
-
Der Vaginalverschluss erfolgt längs mit monofilem Nahtmaterial und Einzelknopfnähten der Stärke 3/0 ([Abb. 3]).
#
#
Mögliche Komplikationen
Intraoperative Komplikationen
-
Blutung
-
Thrombose und Embolie
#
Postoperative Komplikationen
-
Blutung, Hämatome
-
Wundinfektion und Wundheilungsstörungen
-
Sensibilitätsstörungen, Dyspareunie, vaginale Empfindungsstörungen
-
Thrombose und Embolie
-
Harnwegsinfektionen
-
Inkontinenz
-
Fistelrezidive
-
asymmetrische Labien
-
reduzierte Vaginallänge und Kaliber
#
#
Postoperatives Management
-
großlumige Katheterdrainage für 14–28 Tage
-
bei länger liegenden Kathetern:
-
Urinansäuerung mit Vitamin C
-
-
Östrogenersatztherapie bei postmenopausalen Frauen verbessert die Vaskularisierung im vaginalen OP-Gebiet. Cave: Ausschluss gynäkologischer Malignome
-
Urinkontrolle mittels Urinkultur und testgerechte antibiotische Therapie bei Infekt; ggf. antibiotische Prophylaxe
-
Zystogramm vor Entfernung des Dauerkatheters und Miktionszystourethrogramm (in der Regel nach 4 Wochen)
-
vaginale Untersuchung (Spekulum): 4–6 Wochen postoperativ
#
Ergebnisse
-
Der Vorteil des vaginalen Zugangs besteht in der geringen postoperativen Morbidität und der kürzeren Hospitalisation.
-
Auch sind im Vergleich zum abdominalen Zugang der Blutverlust und die Schmerzen der Patientin geringer.
#
Literatur zur weiteren Vertiefung
-
Forsgren C, Altmann D. Risk of pelvic organ fistula in patients undergoing hysterectomy. Curr Opin Obstet Gynecol 2010; 22: 404–407
-
Füth H. Zur Operation der Mastdarm-Scheidenfisteln. Zbl. Gynaäk. 1930; 54: 2882
-
Hirsch HA, Käser O, Iklé FA. Atlas der Gynäkologischen Operationen. 5. Auflage. Stuttgart: Thieme; 1995: 571–594
-
Hohenfellner R. Ausgewählte urologische OP-Techniken. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme;1997: 570–580
-
Latzko W. Postoperative vesicovaginal fistula. Amer.J.Surg. 1942; 58: 211
-
Lee RA, Symmonds RE, Williams TJ. Current status of genitourinary fistula. Obstet. Gynecol. 1988; 72: 313–319
-
Martius H. Über die Behandlung von Blasenscheidenfisteln, insbesondere mit Hilfe der Lappenplastik. Z. Geburtsh. Gynäkol. 1932; 103: 22
-
Mayo C. Repair of small vesicovaginal fistula. Ann.Surg 1916; 63: 106
-
Simon G. Fälle von Operationen bei Urinfisteln am Weibe. Beobachtung einer Harnleiter-Scheidenfistel. Dtsch Klein 1856; 8: 311
-
Sims JM. On the treatment of vesico-vaginal fistula. Amer J med Sci 1852; 23: 59
#
Publication History
Article published online:
04 August 2023
© 2023. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany