Neonatologie Scan 2023; 12(03): 161-162
DOI: 10.1055/a-2006-7464
Editorial

Coffein: „Magic Bullet“ der Neonatologie – eine 50-jährige Erfolgsgeschichte

Axel Hübler
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Roland Hentschel
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Axel Hübler
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Roland Hentschel

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

es ist exakt 50 Jahre her: im Mai 1973 veröffentlichte Jan Kuzemko zusammen mit Josy Paala, beide tätig im Department of Paediatrics, Maternity Hospital in Peterborough (UK), die erste kleine Serie mit 10 Fällen einer erfolgreichen medikamentösen Behandlung der Frühgeborenen-Apnoen in Archives of Disease in Childhood. Er verwendete damals das auch später noch lange für diesen Zweck eingesetzte Aminophyllin – das Ethylendiamin-Salz des bei uns bekannteren Theophyllin –, das er als Spezialist für Asthma, Allergie und Mukoviszidose gut kannte. Die kleine Pilot-Studie zur Anwendung bei Frühgeborenen begründete er folgendermaßen: „Es wurde vermutet, dass Aminophyllin durch seine Fähigkeit, direkt auf Atmungs- und vasomotorische Zentren, aber auch auf das Myokard, einzuwirken, in der Behandlung und Prävention prolongierter Apnoe-Attacken beim kleinen Baby nützlich sein könnte“.

Nützlich war das Medikament bei den ersten 10 Patienten tatsächlich! Die Häufigkeit der Apnoen fiel von 2 bis 8 Attacken vor Behandlung auf „gelegentliche“ bis maximal 2 Episoden unter Aminophyllin. 9 der 10 behandelten Frühgeborenen – alle zwischen 26 und 34 Schwangerschaftswochen – überlebten.

1976 wurde bei Erwachsenen die Umwandlung von Coffein in Theophyllin als Stoffwechselweg beschrieben. Der umgekehrte Weg, die Umwandlung von Theophyllin durch Methylierung zu Coffein, wurde beim Frühgeborenen 1979 nachgewiesen – der Erwachsene hingegen baut Theophyllin durch Demethylierung und Oxidation überwiegend ab.

Schnell war klar, dass unter den Methylxanthinen das Coffein zur Apnoeprävention und -therapie sicherer und wirksamer ist als Theophyllin, dessen Umwandlung in Coffein sehr variabel ist. So wurde Coffein seit den 1980er Jahren weltweit und massenhaft bei Frühgeborenen „off label“ eingesetzt, obwohl es keine größere Studie gab, die für eine Medikamentenzulassung ausgereicht hätte. Erst 2009 erhielt ein Hersteller eine ordnungsgemäße europäische Zulassung für dieses Medikament.

Der deutsch-kanadischen Neonatologin Barbara Schmidt ist es zu verdanken, dass 2006 erstmals die Coffeintherapie in einer randomisierten Studie hinsichtlich möglicher Nebenwirkungen untersucht wurde. Gab es für den primären Endpunkt, definiert als kombinierte Rate für Tod oder neuromotorische Behinderung, ebenso wie für andere Frühgeborenen-typische Schädigungsmuster, keinen Unterschied im Vergleich zur Plazebogruppe, so fand sich die eigentliche Sensation bei einem der sekundären Endpunkte: die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer bronchopulmonalen Dysplasie (BPD) reduzierte sich nach Coffeinprävention um 36 % – und, ebenfalls überraschend und unerklärbar, auch die Rate eines persistierenden Ductus sank signifikant.

In einer Nachuntersuchung mit 18 Monaten stellte sich später auch noch ein um 42 % reduziertes Risiko für das Auftreten einer Zerebralparese oder eine neurokognitive Beeinträchtigung heraus, ein Effekt, der als kombinierter Endpunkt aus Tod, Zerebralparese oder kognitiver Beeinträchtigung mit 5 Jahren allerdings nicht mehr signifikant war. Stattdessen zeigte sich dann aber eine bessere grob-motorische Funktion, was bis zum Alter von 11 Jahren ähnlich ausgeprägt nachweisbar war. Der positive Effekt auf die BPD-Rate spiegelte sich im späteren Leben als verbesserte Lungenfunktion wider.

So wurde Coffein zum „Magic Bullet“ der Neonatologie, ein grandioses und preiswertes Medikament, das seither die Neonatologie revolutioniert hat! Die Zahl der bis heute mit Methylxanthinen, zumeist Coffein, behandelten Frühgeborenen kann nicht einmal annähernd geschätzt werden.

Das Thema bleibt spannend, weshalb wir zwei neue Studien dazu in dieser Ausgabe referieren, beide stammen aus der Arbeitsgruppe von Yee et al. in Australien, und behandeln das periodische Atmen bei Frühgeborenen vor und nach Klinikentlassung. Periodisches Atmen gilt vielen von uns als ungefährliche Variante in einem Kontinuum zwischen schweren, symptomatischen Apnoen und einer komplett stabilen Eigenatmung. Die erste Studie zeigt auf, dass selbst periodisches Atmen für Frühgeborene nicht ungefährlich ist: wer dieses Phänomen bis zur Klinikentlassung häufig bietet, behält es oftmals wenigstens bis zum korrigierten Alter von 6 Monaten. Dies kann zu starken Abfällen der Herzfrequenz führen, und Sättigungsabfälle sind nicht nur in der peripheren Zirkulation nachweisbar, sondern auch in der Hirngewebeoxygenierung. In der zweiten Studie, veröffentlicht in Pediatric Pulmonology, identifiziert die Autorengruppe demografische, geburtshilfliche und klinische Variablen für unerkannte Hypoxien im Schlaf durch periodisches Atmen. An potenziell beeinflussbaren Faktoren fand man heraus: zuvor manifest gewordene Frühgeborenen-Apnoen und notwendige Reanimationsmaßnahmen nach Geburt. Rätselhaft bleibt jedoch die Assoziation zwischen einer kurzen(!) Dauer der respiratorischen Unterstützung nach Geburt und dem Auftreten von Hypoxien im Schlaf noch Monate später.

Übertreiben wir es möglicherweise doch mit unserem Ehrgeiz, so früh wie möglich von Beatmung und Atemunterstützung zu entwöhnen? Sollten wir doch lieber bei Frühgeborenen das Coffein über die Klinikentlassung hinaus beibehalten?

Das Besondere an diesen Studien ist: Es handelt sich um relativ reife Frühgeborene zwischen 28 und 32 Schwangerschaftswochen. Und: Die Frühgeborenen mit unerkannten Hypoxien im Schlaf galten alle als „klinisch stabil“.

Natürlich sind, wie immer, weitere Langzeitstudien zu diesem Thema geboten, um die Bedeutung dieser erstaunlichen Ergebnisse hinsichtlich ihrer Langzeitwirkungen auf neurokognitive und motorische Fähigkeiten zu verifizieren.

Das Kapitel Methylxanthine gegen Apnoen und periodisches Atmen bei Frühgeborenen ist jedenfalls auch nach 50 Jahren noch nicht abgeschlossen!

Ihre Herausgeber

PD Dr. med. Axel Hübler
Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin,
Klinikum Chemnitz gGmbH

Prof. Dr. med. Roland Hentschel
Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät
der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
30. August 2023

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