Nervenheilkunde 2023; 42(05): 307
DOI: 10.1055/a-1989-0835
Gesellschaftsnachrichten
Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie e. V.

Volles Haus beim psychiatrisch-neurologischen Aschermittwoch 2023

Tom Bschor

Pro und Contra: Paternalismus in Psychiatrie und Neurologie

In Anlehnung an den politischen Aschermittwoch darf es beim psychiatrisch-neurologischen Aschermittwoch der BGPN etwas weniger wissenschaftlich und etwas meinungsstärker und pointierter zugehen. In diesem Jahr war es mit über 80 Zuhörern randvoll im Hörsaal der Nervenklinik der Charité Mitte, was dem besonderen Format, den brillanten Pro- und Contra-Rednern und einem Thema, das dem Publikum ganz offensichtlich unter den Nägeln brannte, geschuldet war. Die Frage lautete, wieviel Paternalismus in der heutigen Behandlung noch akzeptabel ist.

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Abb. 1 Dr. Jochen Albrecht und Dr. Martin Zinkler beim psychiatrisch-neurologischen Aschermittwoch der BGPN, Quelle: Bschor

Dr. Martin Zinkler stellte in seinem stringenten, klar argumentierenden Vortrag dar, dass es keinerlei Platz mehr für Paternalismus gibt. Zinkler ging nach seinem Medizinstudium und Weiterbildung bei Michael von Cranach in Bayern für 10 Jahre zu Stefan Priebe nach London, wo er Sozialpsychiatrie in Wissenschaft und Praxis kennenlernte, um dann ab 2009 als Chefarzt der psychiatrischen Klinik in Heidenheim und nunmehr seit 2021 als Chefarzt der psychiatrischen Klinik in Bremen Ost zu arbeiten. Seinen Vortrag begann er mit der vom Bundestag angenommenen UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und dem hieraus abzuleitenden vollständigen Verzicht auf Zwangsmaßnahmen. Behandlung solle ausschließlich an Willen und Präferenzen der betroffenen Person ausgerichtet sein. Paternalismus, der sich ja gerade dadurch rechtfertige, dies stellvertretend besser zu wissen, sei grundsätzlich abzulehnen. Wege zu einer ausschließlich unterstützenden Psychiatrie seien u. a. durchgehend offene Türen, die Beachtung des Erfahrungswissens der Patienten und von Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen, Patientengespräche in der Form des offenen Dialogs, aufsuchende statt Klinikbehandlung und Freiwilligkeit als Voraussetzung jedweder Maßnahme.

Die Gegenposition vertrat Dr. Jochen Albrecht, der nach Tätigkeiten in den USA und an der psychiatrischen Klinik der Freien Universität Berlin von 1988 bis 2012 Chefarzt der Abteilung Psychiatrie des Moabiter Krankenhauses Berlin – die im Verlauf Teil des St. Hedwig Krankenhauses wurde – war. Albrecht legte in einem dramaturgisch exzellent aufgebauten Vortrag dar, dass ein Paternalismus, der in Form des Autoritarismus bevormunde, manipuliere, kontrolliere und Macht ausübe, strikt abzulehnen, in Form der Fürsorge mit dem Ziel der Schadensabwendung aber in Einzelfällen zu rechtfertigen sei. Autonomie und Selbstbestimmungsrecht einer Person seien grundsätzlich zu respektieren. Am Beispiel zweier ausgeprägt manischer Patienten, die ihre sozialen Lebensgrundlagen bzw. ihre Finanzen aufs Spiel setzten, und eines Patienten mit einer organischen Persönlichkeitsstörung nach Reanimation, der impulskontrollgestört zu Aggressionen neigte, machte Albrecht die aus seiner Sicht bestehenden Grenzen der ausschließlichen Freiwilligkeit deutlich. Ein wohlverstandener Paternalismus als Ultima Ratio sei unter strenger Beachtung der Verhältnismäßigkeit in Einzelfällen erforderlich. Er erfordere Entscheidungsfähigkeit und Mut zur Verantwortungsübernahme und unterscheide sich hierdurch von einer sich im liberalen Gewand versteckenden bequemlichen Laissez-faire-Haltung. Eine vollkommen uneingeschränkte Priorität von eigenem Willen und Präferenzen benachteilige die Kränksten und führe sie in Polizeigewahrsam statt in ärztliche Behandlung.

In der lebhaften Diskussion wurde deutlich, wie sehr das Thema die Anwesenden ergriffen hatte, und es wurde engagiert Partei für die eine oder die andere Position bezogen. Im Anschluss hatte der BGPN-Vorstand alle Teilnehmer zu Pizza und Getränken eingeladen. Dies wurde begeistert aufgegriffen, und die kontroversen Diskussionen wurden von A wie Albrecht bis Z wie Zinkler fortgesetzt. Einigkeit allerdings bestand, dass das Thema des Aschermittwochs einen Nerv getroffen hatte und man dank zweier brillanter und rhetorisch exzellent zugespitzter Vorträge ein Highlight erlebt hatte.

Tom Bschor, Berlin

WISSENSCHAFTLICHES PROGRAMM

10.05.2023: Mittwochsveranstaltung der BGPN – 18.00 Uhr Online!

Die Einwahldaten finden Sie auf www.bgpn.de

  • Promotionspreis der BGPN: Vorstellung der Promotionspreisträger 2023

  • Psychodelikaassistierte Psychotherapie; Dr. med. Dimitris Repantis, Charité Berlin



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
03. Mai 2023

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