B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2023; 39(01): 24-25
DOI: 10.1055/a-1983-3202
Journal Club

Vergleich der Wirksamkeit von Bewegung und Antidepressiva bei leichter bis moderater Depression: eine Netzwerk-Meta-Analyse

Originalpublikation

Recchia F, Leung CK, Chin EC et al. Comparative effectiveness of exercise, antidepressants and their combination in treating non-severe depression: a systematic review and network meta-analysis of randomised controlled trials. British Journal of Sports Medicine 2022[1]

Durch eine bessere Diagnostik, eine höhere Sensibilisierung der Bevölkerung, die zunehmende Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen und veränderte Lebensumstände hat die Zahl von Menschen mit einer Depression in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen [2]. Schätzungsweise über 300 Millionen Menschen leiden weltweit an einer depressiven Störung [3]. In der Bundesrepublik beläuft sich die Prävalenz von Depression auf etwa 8%. Über das gesamte Leben wird das Risiko, an einer Depression zu erkranken, auf 12% geschätzt, wobei Frauen mit über 15% etwa doppelt so häufig betroffen sind wie Männer [4]. Eine Analyse der Arbeitsunfähigkeitsfälle von TK-Versicherten zeigte, dass depressionsbedingte Arbeitsausfälle im Schnitt ein halbes Jahr andauern und damit fünfmal so viel Zeit wie der durchschnittliche AU-Fall in Anspruch nehmen [5]. Depressionen sind hierdurch für 7% aller AU-Tage verantwortlich. Neben dem Leid für das Individuum stellen sie dementsprechend auch ein wichtiges gesundheits- sowie wirtschaftspolitisches Problem dar.

Um Depressionen entgegenzuwirken, sind Antidepressiva das Mittel der Wahl [6]. Jedoch ist ihr Einsatz umstritten, da die Kurzzeiteffekte häufig nur gering ausfallen und ihr Einsatz langfristig mit vielen Nebenwirkungen einhergeht [7]. Körperliches Training bzw. Bewegungstherapie sind dementgegen nicht nur nebenwirkungsarm, sondern erfreuen sich vieler zusätzlicher Begleitwirkungen.

Wie effektiv körperliches Training bei moderater Depression tatsächlich ist und wie es im Vergleich zu pharmakologischen Substanzen abschneidet, hat eine jüngst im British Journal of Sportsmedicine veröffentliche Netzwerk-Meta-Analyse (NMA) untersucht [1].

Im Gegensatz zu konventionellen Meta-Analysen, deren Ziel es ist, die mittlere Wirksamkeit einer Intervention gegenüber einer Kontrollintervention zu untersuchen (paarweiser Vergleich), werden in NMA verschiedene Interventionsformen miteinander verglichen. Darüber hinaus werden in NMA auch indirekte Vergleiche angestellt, also Interventionen miteinander verglichen, zu denen es gar keine Vergleichsstudien gibt. Sie sind allerdings über die Kontrollintervention miteinander verknüpft, und über den Mehrwert im Vergleich zur Kontrollintervention wird schließlich der Vergleich zwischen den Interventionen angestellt [8].

Die Autoren durchsuchten sieben Datenbanken (Embase, MEDLINE (PubMed), PsycINFO, Cochrane Library, Web of Science, Scopus und SportDiscus) und konnten schließlich 21 Originalarbeiten mit 2551 Patienten in die Analyse einschließen. Hierbei wurden ausschließlich randomisiert kontrollierte Studien berücksichtigt, welche (1) die Wirksamkeit einer Bewegungsintervention direkt mit der Wirksamkeit von Antidepressiva verglichen, in welchen (2) die Wirksamkeit von Bewegung oder Antidepressiva gegenüber einer Kontrollintervention untersucht wurde oder in welchen (3) eine Kombination aus Bewegung und Medikament Interventionen nur einer der beiden Interventionsformen gegenübergestellt wurde. Als Endpunkt wurde die Schwere der Depression anhand klinisch bewährter Skalen erhoben. Für die Analyse wurden ausschließlich Menschen mit einer klinisch diagnostizierten, leichten bis mittleren Depression eingeschlossen, da für schwerere Fälle keine ausreichende Literatur vorliegt. Aus den 21 Studien konnten insgesamt 25 Effektstärken extrahiert werden. Diese Effektstärken beziehen sich auf folgende Gruppenvergleiche: Antidepressiva vs. Kontrolle (n=11), Bewegung vs. Kontrolle (n=6) Kombination vs. Antidepressiva (n=4), Antidepressiva vs. Bewegung (n=3) und Kombination vs. Bewegung (n=1). Das Bias-Risiko lag bei fünf Studien im niedrigen Bereich, bei 15 Studien im moderaten Bereich und bei einer Studie im hohen Bereich.

Alle Interventionen zeigten sich im Vergleich zu den Kontrollen effektiv. So erreichten die Bewegungsinterventionen (Standardisierte Mittelwertsdifferenz (SMD) = −0,45, 95% Konfidenzintervall (KI)= − 0,67; − 0,23) im Schnitt denselben Effekt wie die Kombinationsintervention (SMD=−0,45, 95% KI: − 0,76; − 0,14). Antidepressiva allein erreichten eine mittlere Symptomminderung von SMD=− 0,33 (95% KI: − 0,48; − 0,19), die zwar deskriptiv kleiner ausfällt (SMD=− 0,12, 95% KI: − 0,33; 0,10), sich jedoch inferenzstatistisch nicht vom Effekt der Bewegungsinterventionen unterscheidet.

Neben der Wirksamkeit verglichen die Autoren die Drop-out-Raten der Studienarme als Indikator für die Akzeptanz der Interventionsformen durch die Patienten. Hier schnitt die Bewegungsintervention schlechter als die Vergleichsinterventionen ab. So ist die mittlere Chance eines Drop-outs im Kontext einer Bewegungsintervention um knapp ein Drittel höher als bei der Gabe von Antidepressiva (Relatives Risiko (RR)=1,31, 95% KI: 1,09–1,57). Interessanterweise trat dies nicht bei der Kombination aus Bewegung und Antidepressiva auf (RR=0,99, 95% KI: 0,62–1,57), deren Schätzwerte jedoch über eine hohe Unsicherheit verfügen, wie man am fast doppelt so breiten Konfidenzintervall sehen kann. Punkten konnten die Bewegungsinterventionen dafür in der Anzahl von adversen Events (AE), die mit 9% deutlich niedriger abschnitten als die pharmakologischen Studienarme mit 22% AEs. Alle Ergebnisse konnten im Rahmen klassischer paarweiser Meta-Analysen validiert und bestätigt werden.

In ihrer Übersichtsarbeit konnten Recchia und Kollegen zeigen, dass sowohl Antidepressiva als auch Bewegung wirksame Interventionsformen bei Menschen mit milder bis moderater Depression sind. Darüber hinaus konnte jedoch keine Überlegenheit der pharmakologischen Interventionen gegenüber Bewegungsinterventionen festgestellt werden. Rein deskriptiv zeigten die Bewegungsinterventionen sogar eine leichte Überlegenheit. Erstaunlich ist in diesem Kontext auch, dass die Kombination von Bewegung und Medikament keinen Mehrwert gegenüber den Einzelinterventionen zeigte. Auf Seiten der Akzeptanz schneiden die Bewegungsinterventionen etwas schlechter ab, da in ihnen größere Drop-out-Raten festgestellt wurden. Hierdurch könnte –ausgehend von der Annahme, dass jene Personen aus den Studien ausscheiden, bei denen Bewegung keine oder sogar negative Effekte zeigt – eine Verzerrung des wahren Effektes im Sinne einer Überschätzung des Bewegungseffektes stattgefunden haben. Für die Konzeption von Bewegungsprogrammen bedeutet dies, dass potenziellen Barrieren gegenüber Bewegung, die vor allem im emotionalen Bereich zu erwarten sind, durch entsprechende Maßnahmen entgegengewirkt werden sollte [9]. Um Bewegungstherapie optimal zu gestalten, reicht der physiologische Effekt demzufolge nicht allein aus. Vielmehr muss sie auch eine psychologische, verhaltensorientierte Komponente berücksichtigen, damit so viele Menschen wie möglich erreicht werden.

Trotz dieser vielversprechenden Ergebnisse bleiben jedoch auch einige Kritikpunkte offen. Zunächst besteht die Analyse aus vergleichsweise wenigen Studien, wodurch die systematische Untersuchung von Varianzquellen zwischen den Studien verwehrt blieb. Eine dieser Varianzquellen könnten beispielsweise die unterschiedlichen Kontrollbedingungen (z. B. inaktive Kontrollgruppe, Placebo-Kontrollgruppe) in den Bewegungsstudien darstellen, die aus praktischen Gründen in der Analyse zusammengeworfen wurden. Ebenso wurden auch alle Bewegungsinterventionen zusammengefasst, ohne dass eine Unterscheidung zwischen Art und Modalität der Bewegung berücksichtigt wurde. Des Weiteren wurden in der Analyse konsequent Studien ausgeschlossen, in welchen Patienten mit schwerer Symptomatik rekrutiert wurden, wodurch eine enorme Zahl an pharmakologischen Studien nicht berücksichtigt wurde. In einer vergleichbaren NMA, welche ausschließlich Antidepressive betrachtete, wurden über 500 Studien analysiert [10].

Diese Befunde zeigen einerseits das gewaltige Potenzial von Bewegung, andererseits beleuchten sie wichtige Forschungslücken. So sollten zukünftige Studien beispielsweise untersuchen, mit welchen Maßnahmen die Akzeptanz der Bewegungstherapie optimiert werden kann, wie die Effekte der Bewegungstherapie durch Variation der Bewegungsmodalitäten beeinflusst werden, ob sich die Wirksamkeit auch bei Menschen mit schwerer Symptomatik replizieren lässt und wie nachhaltig der Effekt der Bewegungsintervention ist, sowohl hinsichtlich der antidepressiven Wirkung als auch darin, einen körperlich aktiven Lebensstil zu etablieren.

Womit auch der zentrale Kritikpunkt an derartigen Meta-Analysen aufkommt. Sie geben eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob Bewegung im Generellen wirksam ist und ob sie auch mit anderen Interventionsformen mithalten kann. Jedoch lässt die Komplexität von Bewegungstherapie mit ihren vielen Komponenten, ihrer hohen Personalisierung und den mannigfaltigen Möglichkeiten der Trainingssteuerung eigentlich keine angemessene Vergleichbarkeit der Interventionen zu, wodurch viele Detailfragen der Praxis nicht adressiert werden können.



Publication History

Article published online:
16 February 2023

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  • Literatur

  • 1 Recchia F, Leung CK, Chin EC. et al. Comparative effectiveness of exercise, antidepressants and their combination in treating non-severe depression: a systematic review and network meta-analysis of randomised controlled trials. British Journal of Sports Medicine. 2022
  • 2 Liu Q, He H, Yang J. et al. Changes in the global burden of depression from 1990 to 2017: Findings from the Global Burden of Disease study. Journal of psychiatric research 2020; 126: 134-140
  • 3 WHO. Other common mental disorders: global health estimates. Geneva: World Health Organization; 2017. 24.
  • 4 Busch MA, Maske UE, Ryl L, Schlack R, Hapke U. Prävalenz von depressiver Symptomatik und diagnostizierter Depression bei Erwachsenen in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz 2013; 56: 733-739
  • 5 TK. Depressionsatlas-Auswertungen zu Arbeitsunfähigkeit und Arzneiverordnungen. Hamburg: Techniker Krankenkasse; 2015
  • 6 APA. Clinical practice guideline for the treatment of depression across three age cohorts. Washington, DC: Author; 2019
  • 7 Ioannidis J. Effectiveness of antidepressants: an evidence myth constructed from a thousand randomized trials?. Philosophy, Ethics, and Humanities in Medicine 2008; 3: 1-9
  • 8 Mills EJ, Thorlund K, Ioannidis JP. Demystifying trial networks and network meta-analysis. Bmj 2013; 346
  • 9 Cipriani A, Furukawa TA, Salanti G. et al. Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis. Focus 2018; 16: 420-429
  • 10 Glowacki K, Duncan MJ, Gainforth H, Faulkner G. Barriers and facilitators to physical activity and exercise among adults with depression: A scoping review. Mental Health and Physical Activity 2017; 13: 108-119