Zeitschrift für Phytotherapie 2023; 44(05): 222-224
DOI: 10.1055/a-1979-5317
Consensus-Statement

Consensus-Statement zu den Ergebnissen eines Workshops zum Einsatz pflanzlicher Arzneimittel in der Pädiatrie[*]

Rationalisierung der Dosierung pflanzlicher Arzneimittel zur Anwendung bei Kindern unter Verwendung von Real-World-Daten
Andreas Hensel
1   Foundation Plants for Health; Institut für Pharmazeutische Biologie und Phytochemie, Universität Münster, Münster, Deutschland
,
Rudolf Bauer
2   Foundation Plants for Health; Institute of Pharmaceutical Sciences, Department of Pharmacognosy, Universität Graz, Graz, Österreich
,
Michael Heinrich
3   Society of Medicinal Plant and Natural Products Research und Foundation Plants for Health; UCL School of Pharmacy, London, United Kingdom
,
Karin Kraft
4   Gesellschaft für Phytotherapie; Zentrum für Innere Medizin, Universitätsmedizin Rostock, Rostock, Deutschland
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Pflanzliche Arzneimittel (Herbal Medicinal Products, HMP) spielen in der Pädiatrie eine wichtige Rolle, weswegen die Kosten für solche Produkte in der klinischen Praxis in einigen europäischen Ländern seitens der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden. Der Rechtsrahmen der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) berücksichtigt jedoch derzeit die Anwendung vieler HMP bei Kindern und Jugendlichen nur sehr eingeschränkt, dies basiert auf fehlenden Daten zur pädiatrischen Anwendung. Viele vom wissenschaftlichen Ausschuss der EMA (HMPC) veröffentlichte Pflanzenmonografien beschränken die Anwendung von HMP auf das Alter ab 12 oder sogar erst ab 18 Jahren. Daher gibt es in vielen Ländern der EU für HMP keine angemessenen Dosierungsempfehlungen für Kinder.

Die bisherigen Bemühungen zur Auswertung bibliografischer Daten zur Untermauerung des Einsatzes von HMP in der Pädiatrie erwiesen sich als nur begrenzt erfolgreich. Daher erscheint eine intensivierte Zusammenarbeit aller Beteiligten aus den Bereichen Wissenschaft, Industrie und Behörden erforderlich, um neue Ideen und mögliche Strategien zu entwickeln.

Im Mai 2022 wurde die aktuelle Situation rund um den Einsatz pflanzlicher Arzneimittel im pädiatrischen Sektor im Rahmen eines internationalen e-Symposiums analysiert, an dem mehr als 300 Teilnehmer aus medizinischen und pharmazeutischen Hochschulen, wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften, Zulassungsbehörden und der Pharmaindustrie teilnahmen. Diskutiert wurden Optionen zur Generierung von Evidenz zum Einsatz traditioneller (T)HMP bei Kindern und Jugendlichen. Das Symposium zeigte zwei erfolgversprechende Ansätze auf:

  • die Generierung adäquater Datensätze aus Real World Data (RWD) und Real World Evidence (RWE) sowie

  • die Extrapolation von Dosierungen für Kinder unter Verwendung bekannter pharmakokinetischer und klinischer Daten aus Erwachsenenstudien.

Um die Verwendung von RWD für die regulatorische Bewertung von HMP bei Kindern und für die Festlegung von validierten Dosierungsschemata für HMP in pädiatrischen Altersgruppen weiter zu bewerten, wurde ein Workshop Paediatric Phytotherapy: Rationalization of Dosages for Children using Real World Data am 19. Juni 2023 in Bonn initiiert, der von drei wissenschaftlichen Fachgesellschaften organisiert wurde: der Stiftung Plants for Health (PfH), der Gesellschaft für Arzneipflanzen- und Naturstoffforschung (GA) und der Gesellschaft für Phytotherapie (GPT). Experten aus der klinischen Praxis, der Wissenschaft, der Pharmaindustrie, den Zulassungsbehörden und einem Unternehmen, welches auf die Generierung von RWD zur Erzeugung von RWE spezialisiert ist, bewerteten Möglichkeiten, Risiken und praktische Aspekte zur Gewinnung, Analyse, Validierung und Nutzung dieser Daten, um bestehende Wissenslücken im Bereich des Einsatzes von Phytopharmaka bei Kindern zu schließen.

Die Diskussionen innerhalb des Workshops konzentrierten sich auf mögliche RWD-Studien, die wiederum die Grundlage für kindgerechte Dosierungsempfehlungen für pflanzliche Fertigarzneimittel sein sollten, aber auch zur Weiterentwicklung der jeweiligen Arzneimittelmonografien (z. B. HMPC-Monografien) dienen können.

Eine kontinuierliche und großflächige Datenerhebung zur Anwendung von HMPs wird in Deutschland und einigen anderen Ländern bereits durch Auswertung elektronischer Patientenakten von Firmen wie IQVIA durchgeführt. Aus solchen oder ähnlichen Datensätzen können Informationen zur Anwendung bei Kindern und Jugendlichen extrahiert und anschließend analysiert und berichtet/veröffentlicht werden. In kleinerem Umfang hat auch das PhytoVIS-Projekt der Kooperation Phytopharmaka wertvolle RWD-Datensätze erbracht.

Um valide und wissenschaftlich fundierte Daten zu erhalten, müssen die medizinischen Fragestellungen präzise und überprüfbar sein. Ein definierter Prüfplan ist eine zwingende Voraussetzung der entsprechenden Studie, die Datenqualität muss durch deren Korrektheit, Konsistenz, Vollständigkeit und Aktualität gewährleistet werden.

Es ist bekannt, dass die EMA die Bewertung von RWD/RWE zur Entwicklung und Zulassung von Arzneimitteln erwägt. Zudem hat das HMPC die mögliche Verwendung von RWD/RWE zur Ergänzung der Empfehlungen zur Behandlung von Kindern in den Monografien in seinen Arbeitsplan für das Jahr 2023 aufgenommen, es wird hierbei vom Pädiatrieausschuss (PDCO) der EMA unterstützt. Es stellt sich jedoch die grundsätzliche Frage nach einer angemessenen Datenbank für HMP.

Viele vom HMPC veröffentlichte Pflanzenmonografien beschränken die Anwendung auf die Altersgruppe ab 12 oder sogar ab 18 Jahren, da keine ausreichenden Daten für jüngere Kinder vorliegen. Dies führt zu der grundlegenden Frage: Welche Daten sind für HMP angemessen?

Bekanntlich beruht die Zulassung/Registrierung von (T)HMP auf einer langjährigen und dokumentierten sicheren Anwendung in der EU. Monografien können auf die Anwendung bei Jugendlichen und/oder Kindern ausgeweitet werden, wenn durch valide RWD der entsprechende Nachweis erbracht wird, was aber nicht bedeutet, dass neue Daten auch zur Änderung des Status der (T)HMP-Monografie führen. Im Gegensatz dazu beruht der well-established use-Status von HMP auf einer klaren Nutzen-Risiko-Bewertung, basierend auf klinischen Studien. Dies bedeutet, dass neue Daten (z. B. in Form von Publikationen mit Peer-Review) zu einem diesbezüglich höheren Wissensstand führen und dadurch die Grundlage für eine außerplanmäßige Überprüfung der entsprechenden Monografien seitens des HMPC sein können.

Vor der Nutzung von RWD müssen jedoch einige Probleme gelöst werden, insbesondere hinsichtlich der Methodik der RWD-Generierung, die teilweise noch in der Diskussion ist. RWD sollten routinemäßig aus einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen erhoben werden. Studien zu RWD/RWE für den Einsatz von HMP bei Kindern sollten immer in Zusammenarbeit mit Kinderärzten durchgeführt werden. Auf der Grundlage einer geeigneten Methodik der Datengenerierung, -analyse und -interpretation können RWD/RWE zur Weiterentwicklung der Arzneimittelzulassung beitragen, insbesondere um Ergebnisse zu Fragen zu liefern, bei denen RCT (randomisierte, klinische Studien) ungeeignet sind (z. B. für Kinder aufgrund ethischer Erwägungen). Hinsichtlich des Bedarfs an Daten, die eine Rationalisierung angemessener Dosierungsschemata für Kinder ermöglichen, ist zu diskutieren, ob RCTs tatsächlich geeignet sind, um Dosierungsschemata für Kinder festzulegen. In diesem Zusammenhang sollte überlegt werden, ob hier andere Studientypen, z. B. nicht-interventionelle Studien aus der realen Welt, in Betracht gezogen werden müssen.

RWD/RWE könnten durch Überinterpretation oder durch den Rückschluss von Assoziationen auf kausale Zusammenhänge zu wenig validen Rückschlüssen führen. Daher besteht die Herausforderung darin, die Datenqualität zu optimieren und zu validieren. Die Vertreterin des deutschen BfArM wies darauf hin, dass die Unsicherheit von RWD/RWE derzeit zu groß sein könnte, um Entscheidungen ausschließlich auf dieser Grundlage zu treffen.

Es wurde diskutiert, dass zusätzliche Datensätze den Entscheidungsprozess verbessern und für die Arzneimittelzulassung notwendig sein könnten. Das BfArM wies darauf hin, dass RWD/RWE langfristig nützlich sein könnten. Allerdings erscheint es aus seiner Perspektive derzeit unwahrscheinlich, dass RWD dazu beitragen können, bestimmte Altersgruppen vom Off-Label-Use auszunehmen. Es wies jedoch darauf hin, dass RWD dazu beitragen können, die Zahl der in RCT benötigten Kinder zu verringern. In diesem Zusammenhang wurde diskutiert, ob es tatsächlich notwendig ist, placebokontrollierte Studien bei Kindern durchzuführen, wenn bereits placebokontrollierte Studien zum Nachweis der Wirksamkeit bei Erwachsenen vorliegen.

Es wurde vorgeschlagen, ein Pilotprojekt zu einem ausgewählten HMP zu initiieren, für das bereits adäquate Daten auf der Grundlage der Anforderungen der HMPC-Monografien vorliegen (z. B. Efeublätter oder Eibischwurzel), um die Generierung, Analyse und Interpretation von RWD/RWE auf der Grundlage dieser Blaupause zu untersuchen. Wenn alle Beteiligten, d. h. Universitäten, Industrie und Zulassungsbehörden, von Anfang an einbezogen werden, könnte dies ein Lernprozess für alle sein, um Erfahrungen mit der Verwendung von RWD/RWE im Hinblick auf die Validität und die Limitationen von RWD/RWE zu sammeln. Das Projekt könnte zu grundlegenden Veröffentlichungen führen und als Leitfaden für künftige Anwendungen derartiger Konzepte dienen. Eine Publikation, die auf einer derartigen Analyse basiert, könnte auch als neue Datenquelle genutzt werden, um eine außerplanmäßige Überprüfung einer Monografie einzuleiten.

Abschließend wurde der Wissensaustausch zwischen den Vertretern aus Wissenschaft, Industrie und Regulierungsbehörden als sehr nutzbringend erachtet. Es wird unerlässlich sein, den noch umfangreicheren Kontext in denjenigen europäischen Ländern zu berücksichtigen, in denen der Einsatz von HMP noch stärker eingeschränkt und umstritten ist. Dieses Treffen sollte der erste Schritt für einen regelmäßigen Austausch von Erfahrungen, Interessen und Ideen sein, um das Thema RWD/RWE voranzubringen, um einen umfassenderen Einsatz von HMP bei Kindern und Jugendlichen zu unterstützen.

Das Konsortium aus PfH, GA und GPT ist offen für den künftigen wissenschaftlichen Austausch mit dem HMPC, den nationalen Zulassungsbehörden und der Industrie und würde gerne als gemeinsame Expertengruppe fungieren, um durch die Nutzung von RWD/RWE die betreffenden Monografien des HMPC und damit die Behandlung von Kindern weiterzuentwickeln.

Teilnehmende des Workshops am 19. Juni 2023

Dr. Nicole Armbrüster, Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V., Deutschland; Prof. Dr. Rudolf Bauer, Universität Graz, Österreich, Stiftung Plants for Health; Dr. Emiel van Galen, M.D. Chairman of Herbal Medicinal Product Committee; Prof. Dr. Michael Heinrich, UCL, London, U.K., Foundation Plants for Health, Society of Medicinal Plants and Natural Products Research; Prof. Dr. Andreas Hensel, Universität Münster, Deutschland, Stiftung Plants for Health; Dr. Ulrike Kastner, Österreichische Gesellschaft für Phytotherapie; Prof. Dr. Karel Kostev, IQVIA Inc., Deutschland; Prof. Dr. Karin Kraft, Universitätsmedizin Rostock, Deutschland, Gesellschaft für Phytotherapie; Dr. Olaf Kelber, Steigerwald Arzneimittel GmbH, Bayer Consumer Health, Deutschland; Silvia Kruppert, M.Sc., IQVIA Inc., Deutschland; Angela Müller, Dr. Willmar Schwabe, AESGP Committee Herbal Medicinal Products; Dr. Bernd Roether, Bionorika SE, Deutschland; Foundation Plants for Health; Dr. Mathias Schmidt, HerbResearch GmbH, Deutschland, Gesellschaft für Phytotherapie; Dr. Barbara Steinhoff, Bundesverband der Arzneimittelhersteller, Deutschland; Dr. Nico Symma, Bundesverband der Arzneimittelhersteller, Deutschland; Dr. Jacqueline Wiesner, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Deutschland.

* Ein Projekt der Stiftung Plants for Health (PfH), der Gesellschaft für Phytotherapie (GPT) und der Gesellschaft für Arzneipflanzen- und Naturstoffforschung (GA)




Publication History

Article published online:
17 October 2023

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