PiD - Psychotherapie im Dialog 2023; 24(04): 96-97
DOI: 10.1055/a-1959-5147
Resümee

Sucht

Room for Improvement

Vielleicht ist es Ihnen mit diesem Heft ähnlich ergangen wie uns: Vieles hat uns nachdenklich gestimmt und vieles macht Lust auf Veränderung. Denn dieses Heft zeigt es deutlich: In der Behandlung stofflicher Süchte ist – v. a. im ambulanten Bereich –noch viel Luft nach oben.

Der Blick auf uns selbst

Die (Mit-)Behandlung von Suchtproblemen in der ambulanten Praxis scheint noch keine Selbstverständlichkeit zu sein. Zu wenige Menschen mit (komorbiden) Suchtproblematiken kommen in der ambulanten Psychotherapie an. Das mag an langen Wartelisten o. Ä. liegen – vielleicht aber auch an unserer Haltung und Bereitschaft, diesen Menschen einen Therapieplatz anzubieten.

Wie viel Unsicherheiten löst der Anruf eines Patienten bzw. einer Patientin bei uns selbst aus, der bzw. die sich mit mehreren Diagnosen, darunter einer Abhängigkeitserkrankung, für die ambulante Psychotherapie anmeldet?

Beginnen könnten wir mit weniger aktivem Weggucken, z. B. beim Nikotin- oder Kokainkonsum, und konkreten Hilfsangeboten, auch wenn dies nicht der primäre Auftrag des Patienten ist. Eine systematische Abklärung von Suchtverhaltensweisen am Beginn jeder psychotherapeutischen Behandlung wäre ein Schritt in diese Richtung.

Diskussions- und v. a. Reflexionsbedarf besteht beim Paradigma der Abstinenzvoraussetzung in der Suchtbehandlung und in der ambulanten psychotherapeutischen Behandlung im Speziellen.

Viele Denkanstöße gibt es in diesem Heft dafür, dass Suchtgeschichten ein wachsameres Auge und eine achtsamere Sprache unsererseits benötigen. Glücklicherweise konnten wir in vielen Beiträgen konkrete Hinweise finden, wie die Interaktionsspirale von Selbstbetrug, Unehrlichkeit und Kontrolle durchbrochen werden könnte. Ein erster Schritt könnte es sein, unsere eigene Haltung zu erkennen und die daraus resultierenden Interaktionsangebote für unsere und mit unseren Klient*innen zu überwachen.

Bei der Ausbildung von Psychotherapeut*innen sollten Suchterkrankungen deutlich mehr in den Fokus gerückt werden. Eine mangelnde Vorbereitung auf den Umgang mit suchterkrankten Menschen in Aus- und Weiterbildung wird beklagt, an anderer Stelle sogar von „Praxisschock“ gesprochen. Auszubildende brauchen mehr Strategien, wie es gelingt, mit süchtigen Menschen über heikle Themen ins Gespräch zu kommen, und wie diese Fragen beziehungsstabilisierend gemeinsam gestaltet werden können.


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Der Blick auf die Patient*innen

Drei Patientengruppen wurden in diesem Heft deutlich herausgearbeitet: Männer, Jugendliche und männliche Jugendliche.

Männer sind häufiger von Suchterkrankungen betroffen, die Alkoholgebrauchsstörung ist die häufigste psychische Erkrankung bei Männern und gleichzeitig nutzen Männer psychotherapeutische Angebote seltener als Frauen. Neben vielen anderen drängenden Fragen könnten wir den Blick darauf richten, wie ein psychotherapeutisches und ambulantes Angebot gestaltet sein muss, damit es häufiger von Männern angenommen wird.

Mit der These, dass Suchtkrankheit als vorläufiger Endpunkt einer Entwicklung anzusehen ist, die als Verhaltensstörung beginnt und zu einem späteren Zeitpunkt Krankheitswert hat, kommt der Adoleszenz als Übergang eine besondere Bedeutung zu. Jugendliches Such(t)- und Risikoverhalten trifft auf eine konsum- und pharmakaorientierte Gesellschaft, in der Berauschendes zur Kultur gehört und in der zukünftig eine noch größere Anzahl berauschender Substanzen „legal“ sein wird. Die Gruppe der jungen männliche Cannibiskonsumenten ist jetzt schon groß und sie könnte zukünftig noch größer werden. Im Kinder- und Jugendlichen-Bereich werden auch deshalb mehr suchtspezifische Angebote benötigt. Wie könnte es gelingen, die jungen Suchtpatient*innen früher zu erreichen?


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Der Blick ins Netzwerk

Deutlich wird in diesem Heft die Schnittstellenproblematik, die Lücke, in der Betroffene verloren gehen – lost in gaps. Der Übergang vom stationären in den ambulanten Bereich wird durch lange Wartezeiten, Abstinenzauflagen und ein benötigtes hohes Maß an Eigensteuerung des Klientels erschwert und gelingt nicht gut; gleiches gilt für zahlreiche alternative Angebote.

Auf der einen Seite steht die Forderung an die Profis nach mehr suchtspezifischem Kompetenzerwerb, nach Qualitätszirkeln von Kolleg*innen mit mehr und weniger suchtspezifzischer Expertise und einer Orientierung der Angebote an den Bedarfen der Betroffenen. Auf der anderen Seite steht die Realität, dass gute suchtspezifische Angebote durch Kürzungen und fehlendes Personal der Versorgungslandschaft wieder verloren gehen.

Brückenschlagende Impulse sind einige in diesem Heft zu finden: alternative Wege wie das Drug-Checking, die fallbezogene Netzwerkarbeit und die Kombination bewährter Standards mit subjektzentrierten, individuell maßgeschneiderten Ansätzen.

… wenn da bloß die eine oder andere Lücke nicht wäre, in der gute Vorsätze und erste Schritte wieder verschwinden.

Auf geht’s zum Brücken Bauen: zu uns selbst, zu den Betroffenen und zu den anderen im Netzwerk!

Ihre

Claudia Dahm-Mory und Silke Wiegand-Grefe


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Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
28. November 2023

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