Nervenheilkunde 2022; 41(12): 821-822
DOI: 10.1055/a-1924-0901
Zu diesem Heft

Religiosität für Psychiatrie und Psychotherapie

Georg Juckel
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Paraskevi Mavrogiorgou
,
Frank-Gerald Bernhard
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Prof. Dr. med. Georg Juckel Westfälisches Zentrum Bochum Psychiatrie – Psychotherapie – Psychosomatik, Klinik der Ruhr-Universität Bochum
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Dr. Paraskevi Mavrogiorgou Westfälisches Zentrum Bochum Psychiatrie – Psychotherapie – Psychosomatik, Klinik der Ruhr-Universität Bochum
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Prof. Dr. med. Frank-Gerald Bernhard Pajonk Kloster Schäftlarn

Passend zu den anstehenden Feiertagen ist diese Ausgabe der Nervenheilkunde dem Thema Religiosität, Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie gewidmet. Seine zahlreichen Beiträge verdeutlichen, dass Glaubensaspekte mit psychischer Gesundheit oder Krankheit auf vielen Ebenen miteinander verbunden sind. Zentral ist unter anderem das Identitätserleben von Menschen. Denn eine Ebene von Identität beschäftigt sich mit dem Eingebundensein des Menschen in einen höheren Sinnzusammenhang, seine Abhängigkeit von etwas Größerem außerhalb seiner selbst. Diese Erfahrung ist auch gültig für Menschen, die an keinen Gott glauben, nämlich, dass wir nicht alles in der Hand haben, dass Geburt und Tod, Erschaffung und Vergänglichkeit und in jedem Moment dazwischen das So-Sein von uns nicht verstanden werden können. Dafür bietet beispielsweise das Buch Kohelet der Bibel einen Erklärungs- und Verstehensansatz, der psychotherapeutisch nutzbar gemacht werden kann. Überhaupt fußen implizit viele Therapiemodelle auf humanistischen Philosophien, in die ihrerseits in unserem Kulturkreis christlich-religiöse Vorstellungen sowie Ansätze des Alten und Neuen Testaments eingegangen sind. Es gibt vielfältige Überschneidungen des Menschenbildes und des Gottesbildes. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Gleichnisse Jesu aus den Evangelien bis heute Einfluss auf die Beziehungsgestaltung von Menschen haben. Ein prominentes Beispiel dafür ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn, in dem besonders die Aspekte Scham, Schuld und Vergebung thematisiert werden. Es ist außerdem lange bekannt, dass sich bei einigen psychischen Erkrankungen der Bezug und die Beziehungsfähigkeit zur Umwelt ändern. Dies betrifft sowohl die Beziehung zu Menschen als auch die Beziehung zu einem Göttlichen und letztlich und vor allem zu sich selbst.

Vor diesem Hintergrund ist es eigentümlich, dass sich Religion und Psychiatrie in den vergangenen Jahrhunderten oft fremdgeblieben sind und einander verdächtig waren. Aus Sicht einiger psychiatrischer und psychotherapeutischer Schulen stellte der Glaube an einen Gott einen Faktor dar, der nicht greifbar war und das Ergebnis von Therapie aus vielen unterschiedlichen Gründen in Frage stellte. Aus Sicht kirchlicher Institutionen andererseits wurde sicher auch nicht ganz zu Unrecht geargwöhnt, dass Psychiatrie und Psychotherapie den Menschen von Gott entfremden wollten und Erklärungsmodelle für innerpsychische Vorgänge schaffen, die auf das Geschöpf, nicht den Schöpfer zurückführen.

Die Auseinandersetzungen zwischen Religion und Psychiatrie begannen schon früh und hatten nicht selten das Ziel, den Gegner zu diskreditieren. Ein schönes Beispiel hierfür sind die zahlreichen Versuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, den Stifter des christlichen Glaubens, Jesus Christus, der psychischen Krankheit zu überführen. Wenn bewiesen werden kann, dass Jesus verrückt ist, ist es auch Unsinn, an ihn zu glauben. Für die Gläubigen ist er seit etwa 2000 Jahren der Sohn Gottes, der als Kind in einer Krippe geboren wurde. Wenn es nun gelänge, sie davon zu überzeugen, dass er ein Epileptiker oder Psychotiker sei? An diesem Versuch beteiligten sich sowohl Psychiater und Psychologen (u. a. Binet-Sanglé, Hirsch, Lomer, Rasmussen, Schäfer) als auch Theologen (u. a. Holtzmann, Strauß, Werner) mit ihren Pathografien. David Friedrich Strauß bescheinigte Jesus 1835 als erster, ein „Schwärmer“ zu sein, in einer späteren Fassung als „dem Wahnsinn ganz nahe stehend“ zu betrachten sei. Georg Lomer (unter dem Pseudonym de Loosten) postulierte 1905 in seinem Buch mit dem Titel „Jesus Christus vom Standpunkt des Psychiaters“, dass Jesus ein „erblich belasteter Mischling“ sei, ausgestattet „mit stark ausgeprägtem Selbstbewusstsein, hoher Intelligenz und gering entwickeltem Familiensinn“, außerdem mit einem „Mangel an geschlechtlichem Sinn“. Alles zusammen sei „ein psychisches Degenerationszeichen par excellence“, welche schließlich in ein Wahnsystem münden würde. William Hirsch stellt 1910 die Diagnose Paranoia, und Charles Binet-Sanglé verwendete auch Anfang des 20. Jahrhunderts viele tausend Seiten darauf zu begründen, dass Jesus unter religiöser Paranoia litt. Es entwickelte sich eine literarische Streitkultur über die psychische Gesundheit Jesu, in deren Mittelpunkt die Frage stand, wie sehr man die verschiedenen biblisch-neutestamentlichen Ereignisse wörtlich und als gegeben nehmen durfte. Auch der Theologe und Arzt Albert Schweitzer griff mit seiner Schrift „Die psychiatrische Begutachtung Jesu“ (1913) mit in die Diskussion ein, wenig später (1922) auch transatlantisch der amerikanische Theologe Walter Ernest Bundy mit seiner Schrift „The Psychic Health of Jesus“. Beide verteidigten die mentale Gesundheit Jesu.

Es lohnt, sich mit diesen Schriften psychiatriehistorisch auseinanderzusetzen, für Gläubige, Agnostiker und Atheisten. Sie sind eine Fundgrube für gute und schlechte Argumente für und gegen den Glauben und seine Bedeutung für die Psychiatrie und Psychotherapie. In diesem Heft setzen wir auf Integration: Wir nehmen zur Kenntnis, dass Religion im Alltag zwar einen über die letzten Jahrzehnte deutlich geringeren Einfluss auf das Leben der Menschen in Deutschland einnimmt, religiöse, nicht nur christliche Überzeugungen aber weiterhin für viele und ihren Alltag bedeutsam und prägend sind. Wenn dem so ist, werden diese Überzeugungen Einfluss auf die psychiatrische und psychotherapeutische Diagnostik, Behandlung und Versorgung nehmen und unser Fachgebiet diese stärker als bisher einbeziehen müssen. Die in diesem Heft abgedruckten Beiträge machen in ihrer Bandbreite deutlich, wie vielschichtig und relevant dieses Thema ist. Wir hoffen mit diesem Schwerpunktheft zu Weihnachten 2022, dem Ereignis der fundamentalen Beziehungsaufnahme Gottes zu den Menschen durch seinen Sohn, den Lesern verschiedene Aspekte dieses großen, bei psychiatrischen Patienten bislang eher wenig betrachteten Themas nahe zu bringen und wünschen eine anregende und gesegnete Lektüre.

Georg Juckel, Paraskevi Mavrogiorgou und Frank-Gerald Bernhard Pajonk, Bochum/Schäftlarn



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
01. Dezember 2022

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