Onkologische Welt 2022; 13(06): 309
DOI: 10.1055/a-1881-2249
Editorial

Neuro-onkologischer „Crosstalk“

Alexander Kretzschmar
Zoom Image

Es kommt nicht so oft vor, dass sich die Neurologie auf ihrem Jahreskongress besonders intensiv mit der Onkologie befasst. Die Neuroonkologie musste sich immer hinter den großen Volkskrankheiten wie den Demenzen, dem Morbus Parkinson oder den Kopfschmerzen um Aufmerksamkeit bemühen. Hirntumoren waren, sind und bleiben ein schwieriges Feld. Der therapeutische Fortschritt ist überschaubar, zumal in der medikamentösen Behandlung. Das bedeutet aber nicht, dass das ZNS onkologisch für die Neurologie Terra incognita ist. Im Gegenteil! Auf der Neurowoche 2022 widmete sich das Präsidentensymposium neuen Erkenntnissen zur Tumor-Nerven-Interaktion. Hirntumoren bilden hierarchisch organisierte Netzwerke, stehen in Kommunikation mit Nervenzellen und bilden mit diesen Netzwerke – Neuron-Gliom-Synapsen. So weit, so bekannt. Dass solche Netzwerke auch ein Treiber für die Tumorentwicklung sein könnten, das ist ein extrem innovativer Ansatz und eröffnet völlig neue Therapieansätze.

Haben wir in der Vergangenheit zu fokussiert auf die Tumoren geblickt und dabei das Nervensystem ausgeblendet? Ermöglicht wurde die neue fachübergreifende Sichtweise maßgeblich durch die Entwicklung der genetischen Hochdurchsatz-Sequenzierung, dem Next Generation Sequencing (NGS). Der Einsatz der künstlichen Intelligenz (KI) hilft, diese Datenmengen zu strukturieren und zuzuordnen. Davon hat nicht nur die Onkologie u. a. bei der Entwicklung präzisionsmedizinischer Therapieansätze entscheidend profitiert. Die molekulare Dechiffrierung der Tumoren hat auch in der Neurologie zu einem Paradigmenwechsel nicht nur in der neuroonkologischen Diagnostik geführt. Der neue Forschungsbereich „Cancer Neuroscience“ widmet sich jetzt den verschiedenen Dimensionen der komplexen Interaktion zwischen zentralem und peripherem Nervensystem und Tumorerkrankungen. Dabei kommt hinzu, dass die Netzwerkbildung zwischen Tumorzellen und Neuronen nicht nur Tumoren des ZNS anheizt, sondern möglicherweise auch bei allen anderen Krebsarten ein Treiber ist. Ein weiterer interessanter Forschungsansatz ist die Frage, ob sich Tumorzellen auch die Mechanismen der neuronalen Plastizität aneignen.

Diese Erkenntnisse und mögliche Konsequenzen muss man erst einmal sacken lassen. Krebserkrankungen wären somit pathophysiologisch neurologische Erkrankungen, spekulierte bereits Neurowochen-Kongresspräsident Wolfgang Wick.

Dr. Alexander Kretzschmar



Publication History

Article published online:
19 January 2023

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany