Laryngorhinootologie 2022; 101(07): 597-600
DOI: 10.1055/a-1851-2595
Gutachten und Recht

Aus der Gutachtenpraxis: Die degenerativ-endogene Schwerhörigkeit beim Lärmarbeiter

From the expertʼs office: Degenerative-endogenous hearing loss in the noise worker
T. Brusis

Einleitung

Die Diagnose einer arbeitsbedingten Lärmschwerhörigkeit im Sinne einer BK 2301 setzt voraus, dass sowohl die arbeitstechnischen als auch die medizinischen Voraussetzungen gegeben sind. Der Nachweis einer jahre- oder jahrzehntelangen hohen Lärmexposition allein reicht nicht aus, da ein Lärmarbeiter auch an einer anderen Schwerhörigkeitsform erkranken kann [1] [2]. Die typischen audiometrischen Merkmale (Innenohrschwerhörigkeit, Symmetrie und c5-Senke) müssen im Vollbeweis vorliegen, um eine BK 2301 zu bestätigen. Wenn der tonaudiometrische Befund untypisch ist, fehlen die medizinischen Voraussetzungen. Der Gutachter ist aber nicht verpflichtet, die Ursache einer andersartigen Schwerhörigkeit nachzuweisen. Wenn die arbeitstechnischen und medizinischen Voraussetzungen gegeben sind, reicht aber die sog. hinreichende Wahrscheinlichkeit für Zusammenhangsüberlegungen aus. Liegt aber ein Kurvenverlauf vor, der mit dem Bestehen einer Lärmschwerhörigkeit nicht vereinbar ist, dann ist von einer außerberuflichen Schwerhörigkeit auszugehen. Bei einer symmetrischen pantonalen Schwerhörigkeit handelt es sich dann um eine degenerative bzw. endogene Schwerhörigkeit, d. h. um eine ätiologisch und pathogenetisch ungeklärte Schwerhörigkeit aus innerer Ursache. In solchen Fällen ist das Vorliegen einer Lärmschwerhörigkeit insgesamt – auch nach jahrelanger erheblicher Lärmbelastung – eindeutig abzulehnen. Nur wenn es Hinweise auf eine bifaktorielle Schwerhörigkeit gibt, muss der Gutachter versuchen, eine Abgrenzung zwischen lärmbedingter und nicht lärmbedingter Schwerhörigkeit vorzunehmen [3]. In manchen Fällen neigen Gutachter dazu, gedanklich in den Hochtonbereich eine Hochtonsenke zu projizieren und schlagen der Berufsgenossenschaft vor, die Hörverluste im Hochtonbereich als Lärmfolge anzuerkennen. Eine solche Beurteilung wäre jedoch spekulativ und führt in der Folge zu erheblichen Problemen bei Leistungsträgern und zu Unverständnis bei den betroffenen Versicherten bzw. Klägern [4].



Publication History

Article published online:
23 June 2022

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  • Literatur

  • 1 Brusis T. Schwerhörigkeit beim Lärmarbeiter = Lärmschwerhörigkeit?. HNO-Nachrichten 2007; 5: 2-5
  • 2 Brusis T. Ist das eine Lärmschwerhörigkeit?. HNO-Informationen 2014; 26-29
  • 3 Brusis T. Wann sind Hörverluste im Hochtonbereich bei pantonaler Schwerhörigkeit Folge berufliche Lärmeinwirkung? Häufige Fehlbeurteilung durch Gutachter, Beratungsarzt und Berufsgenossenschaft!. Laryngo-Rhino-Otol 2015; 94: 39-41
  • 4 Brusis T. Aus der Gutachtenpraxis: Kausalitätsprobleme bei der Abgrenzung zwischen beruflicher und außerberuflicher Schwerhörigkeit. Laryngo-Rhino-Otol 2009; 88: 45-47
  • 5 Lehnhardt E. Klinik der Innenohrschwerhörigkeiten. Arch. Oto-Rhino-Laryngol. SuppI. (1984) 58-218
  • 6 Brusis T. Gutachtliche Probleme beim Zusammentreffen von Lärmschwerhörigkeit und Hörstörungen anderer Genese unter besonderer Berücksichtigung der Altersschwerhörigkeit. Z Laryng Rhinol 1973; 52: 915-929
  • 7 Plath P. Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Abgrenzung zwischen Lärmschaden und anderen degenerativen Erkrankungen des Hörorgans. HNO 1992; 40: 73-78
  • 8 Schwetz H, Welleschick B. Die Entwicklung endogener Innenohrschwerhörigkeit unter beruflicher Lärmexposition. Laryngo-Rhino-Otol 1991; 70: 463-469
  • 9 Brusis T. . Die Lärmschwerhörigkeit und ihre Begutachtung, Demeter 1978
  • 10 Brusis T. Lärmschwerhörigkeit. Handbuch der Arbeitsmedizin. Ecomed-Verlag; 2013: 1-12
  • 11 Pfister M, Bolz HJ. Genetik. In Reiß M. Facharztwissen HNO-Heilkunde. 2. Aufl.. Springer; 2021
  • 12 Feldmann H, Brusis T. Das Gutachten des HNO-Arztes. 8. Aufl.. Thieme; 2019
  • 13 Michel O. Zur Hörschwellencharakteristik nach Lärmschädigung des Innenohres. HNO 2017; 65: 58-60