physiopraxis 2022; 20(07/08): 14-15
DOI: 10.1055/a-1838-7240
Profession

Wenn Menschen sterben – Umgang mit Trauer in der Physiotherapie

Claudia Kemper

„Ich fühle mich kraftlos und leer!“ So beginnt Anna S. unser Gespräch über ihren erschöpften Zustand, nachdem drei ihrer Patienten in kurzer Zeit verstorben waren. Ein Zustand, der große Zweifel in der erfahrenen Physiotherapeutin weckten, ob der Beruf noch der richtige für sie sei. Eine Ausnahme – oder sind starke Trauerreaktionen bei Behandler*innen doch häufiger als vermutet? Welche Bedeutung hat die eigene Trauer im beruflichen Alltag der Gesundheitsberufe?

Etwa 70 Prozent der Sterbefälle in Deutschland geschehen im Krankenhaus oder Pflegeheim [1]. Damit ist der Tod von Patient*innen eine zwangsläufige Erfahrung aller therapeutisch, pflegerisch und ärztlich Tätigen, und Reaktionen der Trauer sind allgegenwärtig. Das hat auch die Physiotherapeutin Anna S. erlebt: Sie fährt regelmäßig zu Hausbesuchen in ein Pflegeheim, mobilisiert Patient*innen und erlebt deren Höhen und Tiefen. Der Tod ist für sie keine neue Erfahrung, dass aber gleich mehrere ihrer langjährigen Patient*innen in wenigen Wochen versterben, hat sie regelrecht aus der Bahn geworfen, und es fühlt sich an, als hätte sie Familienangehörige verloren.

Die Trauerforschung zeigt, dass die Erfahrung von Anna S. durchaus alltäglich ist, denn ähnlich der Trauer bei dem Verlust eines familiär nahestehenden Menschen können die Trauerreaktionen bei Therapierenden entstehen [2]. Sie lassen sich unterscheiden in die wahrgenommene Bedeutung des Todes, Trauerreaktionen und Veränderungen, die Verlusterfahrungen mit sich bringen (ABB. 1).

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ABB. 1 Strukturmodell der Trauer von Behandler*innen © K. Oborny/Thieme

Der Tod von Patient*innen wird als professioneller Verlust wahrgenommen, wenn er wie ein persönliches Versagen der eigenen Kompetenz empfunden wird. So berichtet etwa ein Auszubildender voller Schuldgefühle, er habe eine Patientin mit Herzinsuffizienz behandelt, die kurz darauf gestorben sei. Aber auch die Wahrnehmung eines persönlichen Verlusts stellt sich unweigerlich ein, wenn Patient*innen sterben, die jahrelang in Behandlung waren, und sich in der Zeit eine persönliche Beziehung aufgebaut hat. Ein Trauma ist der Tod im beruflichen Kontext dann, wenn die Situation persönliche traumatische Ereignisse wachruft.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
19. Juli 2022

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
  • Literaturverzeichnis

  • 1 Dasch B, Blum K, Gude P. et al Sterbeorte - Veränderung im Verlauf eines Jahrzehnts: Eine populationsbasierte Studie anhand von Totenscheinen der Jahre 2001 und 2011. Deutsches Ärzteblatt 2015; 112: 496-504
  • 2 Kaplan LJ. Toward a model of caregiver grief: nurses’ experiences of treating dying children. Omega – Journal of Death and Dying 2000; 41: 187-206
  • 3 Chen C, Chow A, Tang S. Bereavement process of professional caregivers after deaths of their patients: A meta-ethnographic synthesis of qualitative studies and an integrated model. Int J Nurs Stud 2018; 88: 104-113 DOI: 10.1016/j.ijnurstu.2018.08.010.
  • 4 Lammer K. Trauer verstehen. 4. Aufl. Berlin: Springer; 2014
  • 5 Zapf D, Semmer NK. Streß und Gesundheit in Organisationen. In Schuler H (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich D, Serie III, Band 3 Organisationspsychologie. 2. Aufl. Göttingen: Hogrefe; 2004: S. 1007-1112
  • 6 Contrada R, Baum A. The Handbook of stress science: Biology, psychology and health. New York: Springer; 2011
  • 7 Struhs-Wehr K. Betriebliches Gesundheitsmanagement und Führung. Wiesbaden: Springer; 2017
  • 8 Lazarus RS, Folkmann S. Stress, appraisal and coping. New York: Springer; 1984
  • 9 Bonanno G. Die andere Seite der Trauer. Bielefeld: Aisthesis; 2012