Osteologie 2022; 31(02): 130-132
DOI: 10.1055/a-1807-8899
Gesellschaftsnachrichten
Dachverband Osteologie e.V. – Informationen

Nachruf Hans Schießl (1949–2022)

Rainer Rawer
,
Jörn Rittweger
,
Eckhard Schönau

Die Muskel- und Knochen-Gemeinschaft hat ihren Gründer Hans Schießl verloren, der am 9. Februar 2022 verstarb. Wir möchten an dieser Stelle an ihn und seine Leistungen erinnern.

Hans Schießl wurde am 22. Mai 1949 im badischen Pforzheim, am Rande des Schwarzwaldes zwischen Karlsruhe und Stuttgart, geboren. Hans blieb bis zuletzt ein Pforzheimer Urgestein durch und durch. Nach seiner Schulzeit begann er eine Lehre als Hochspannungstechniker bei den Stadtwerken Pforzheim. Danach arbeitete er als Servicetechniker bei einer Firma die unter anderem Messtechnik zur Flussmengenmessung bei Ölpipelines im mittleren Osten herstellte und wartete. Hier sammelte er erste Erfahrungen mit der Absorptionsmessung mittels Festkörperstrahlern wie auch in der Regelungstechnik und Kybernetik. Im Jahr 1979 machte er sich dann kurzentschlossen selbständig und gründete seine erste Firma – zunächst mit dem Firmensitz buchstäblich in der Garage seines Compagnons. Hier entwickelte Hans Schießl Produkte, mit deren Hilfe er die Automatisierung in der Getränkeabfüllindustrie revolutionierte, und wofür er zahlreiche Patente anmeldete. Elementar waren dabei die Füllstandskontrolle, wieder mittels Festkörperstrahlern, aber insbesondere auch ein neuartiges Regelungssystem, welches erstmalig das effektive Zusammenführen von Abfüllstraßen, und damit moderne, automatisierte Abfüllanlagen überhaupt ermöglichte. Nicht zuletzt seine Produkte bemächtigten seinen damaligen exklusiven Industriepartner zum Aufstieg als Global Player.

Hans suchte jedoch zusätzliche Geschäftsfelder und fand sie in der Medizintechnik, zunächst bei der Automatisierung von Labordiagnostik mit Hilfe von Radioimmunoessays. Dann traf er Peter Schneider aus Würzburg, der sein Interesse an einer neuartigen Technologie zur Messung von „Knochendichte“ mittels Computertomographie weckte. Für Hans machte es wenig unterschied, ob er mit Hilfe der ionisierenden Strahlung Schaum von Flüssigkeit oder trabekulären von kortikalem Knochen unterscheiden sollte. Also entwickelte er ‚gschwind‘ das XCT und damit den ersten peripheren Quantitativen Computertomographen (pQCT). Nachdem er auf einer Tagung in Argentinien(!) den Knochenforscher Jose Luis (Pepe) Ferretti kennengelernt hatte, begann er auch geometrisch/mechanische Kenngrößen zur Knochenfestigkeit in seine XCT-Software zu integrieren. Dies führte ihn unweigerlich zur Frage welchen Ursprung die auf den Knochen wirkenden Kräfte haben könnten, und vor allem: wie der Knochen sich an diese Kräfte anpassen könnte.

Um letzteres besser zu verstehen folgte er Pepe‘s Rat und nahm am berühmten Sun Valley „Hard Tissue Workshop“ teil, wo er die Knochen-Pioniere Harold Frost und Webster Jee kennenlernte. Beide hatten für sich gerade die Kybernetik entdeckt, und so ergänzten sich die drei vortrefflich um die Knochenadaptation zu begreifen. Als Hans allerdings Harold und Web fragte, woher ihrer Meinung nach wohl besagte Kräfte kämen, und er darauf bestand, dass diese vom Muskel erzeugt würden, meinten die beiden nur: mit dem „Sch….“ könne er aber keinen Blumentopf gewinnen !!! Hans ließ sich aber nicht beirren und sammelte zusammen mit Pepe klinische Daten. Konfrontiert mit diesen, waren Harold und Web zwar noch nicht vollends überzeugt vom dem „Sch…“, aber publizierten zusammen mit den beiden das berühmte Paper, das gleichsam den Big Bang der Muskel-Knochen Interaktion darstellt [1].

Als einer der frühen Schüler des neuen Konzeptes beschrieb dann einer der Autoren (ES) die „funktionale Muskel-Knocheneinheit“ [2], und veränderte damit die Sicht der Pädiatrie auf Wachstumsprozesse und die Entwicklung im Allgemeinen. Dadurch wurde die Normalisierung nicht nur auf Größe und Gewicht, sondern auf Muskelmasse und Muskelfunktion als Standard in der Pädiatrie eingeführt.

Nachdem die Rolle des Muskels somit erkannt und etabliert war, stellte sich die Frage wie Muskelfunktion verlässlich quantifiziert werden konnte. Hierfür entwickelte Hans Schießl ein Analyseverfahren auf Basis von Kraftmessplatten, heute bekannt als Mechanography. Noch wichtiger war für ihn aber die Frage wie er insbesondere die Muskulatur im Alter effektiv trainieren und erhalten könnte. Nach frustrierenden Versuchen auf Basis der althergebrachten Methoden der traditionellen Trainingslehre, erinnerte sich Hans Schießl an seine früheren Erfahrungen mit Muskeltraining bei Querschnittslähmung. Parallel zur XCT-Entwicklung hatte er eigens hierfür einen mikroprozessorgesteuerten 8-Kanal funktionalen Elektrostimulator (FES, in den frühen 1980ern eine weitere Weltneuheit) entwickelt und über Jahre erforscht wie der Muskel effektiv trainiert werden kann. Hier musste er aber auch erkennen, dass diese Technologie vielfältige Grenzen hatte. Er fragte sich also, ob man statt eines Stroms von außen nicht auch die körpereigene Bio-Elektrizität nutzen könnte, sprich Muskel-Reflexe. Diese Überlegungen waren die Grundlage zur Entwicklung einer neuen Technik der Ganzkörpervibration. Ihm waren dabei mögliche Anwendungsprobleme, insbesondere für die Übertragung von Vibrationen in den Oberkörper, wohl bewusst, und er erfand daher die seitenalternierende Vibrationsplattform (wie auch seine erste Vibrationshantel) – heute als Galileo Geräteserie bekannt. Somit ist Hans Schießl auch der Begründer der „Whole Body Vibration“ (WBV) und somit der Pionier dieses heutigen weltweiten Marktes dieser Trainings- und Therapiemethode.

Bei seinen Bestrebungen das Potenzial der WBV für die Geriatrie zu ergründen, freundete er sich mit dem Geriater Dr. Martin Runge aus Esslingen an. Martin Runge war einer der ersten, der erkannte wie grundlegend wichtig im Alter Gangstörungen und Stürze sind, und wie fundamental die Muskulatur dabei ist. Runge war daher besonders froh darüber, ein effektives Werkzeug für die geriatrische Rehabilitation gefunden zu haben [3]. Ein genaugenommen gar nicht so weit entferntes Thema fand sich beim Knochenverlust von Astronauten in der Schwerelosigkeit. Hierfür entwickelte Hans Schießl zusammen mit Dieter Felsenberg ein Konzept, um den Muskel und Knochenverlust bei langen Liegephasen zu verhindern und beide bewiesen die Effektivität von WBV in Kombination mit Widerstandstraining in den zwei Berliner Bedrest Studien [4] [5]. Später entwickelte Hans Schießl zusammen mit einem der Autoren (RR) ein spezielles Schlittensystem, das Bewegungen vergleichbar dem freien Sprung auch ohne Schwerkraft (oder auch im Liegen) ermöglicht. Auch dieses patentierte System erwies sich in Studien als sehr effektiv, um den negativen Effekten der Bettlägerigkeit bzw. der Inaktivität entgegenzuwirken [6]. Mit etwas Glück werden Hans Schießls technologische Entwicklungen der Menschheit somit auch helfen, um relevante Funktionen auch außerhalb der Erde zu erhalten.

Beeindruckt vom Erfolg der Berliner Bedrest Studien und beflügelt von Hans Anregungen entschloss sich einer der Autoren (ES) die WBV in einen holistischen Therapieansatz für nichtgehfähige Kinder zu integrieren: das Kölner Konzept „Auf die Beine“ wurde entwickelt. Dieses Konzept wird seit 2007 umgesetzt, ist seither ausgesprochen erfolgreich und findet signifikante nationale und internationale Wahrnehmung. Bis heute haben über 5000 Kinder am Intervalltraining in der Kombination aus Klinikaufenthalten und täglichem häuslichen Training mit WBV profitiert [7]. Bei vielen Kindern und Jugendlichen konnte insbesondere die Gehfähigkeit verbessert oder erhalten werden und damit ihre Teilhabe im Alltag sichergestellt werden.

Hans Schießl war der Kristallisationspunkt für die deutsche Muskel-Knochen Community und seine langjährigen engen Freunde Prof. Dieter Felsenberg und Dr. Martin Runge waren mit ihm zusammen gleichsam die erste Generation dieser Community, die stetig wuchs und in den vergangenen drei Jahrzehnten viel angeregt und letztlich auch im wahrsten Sinne des Wortes bewegt hat.

Vor etwa einem Jahrzehnt beschloss Hans Schießl dann, dass er zur Wissenschaft genug beigetragen hätte (eine Ansicht, der die Autoren dieser Zeilen nur zustimmen können, denn es ist schwer alle seine Leistungen zu würdigen, ohne das Zeitbudget des Lesers über die Maße zu strapazieren). Er zog sich seither sukzessive aus dem operativen Geschehen seiner Firmen zurück und genoss sein Privatleben – nicht, dass er dies zuvor nicht getan hätte. Er genoss seine Oldtimer und insbesondere die jährliche Mille Miglia. Er entwarf und errichtete in kompletter Eigenregie (wie auch sonst?) ein Chalet auf 1800 m in den österreichischen Alpen. Hans ging in der neuen Nachbarschaft schnell auf – und dies, weil Hans eben Hans war, nicht ohne Diskussionen, jetzt allerdings wieder vermehrt mit dem Schwerpunkt Weltpolitik, und auch nicht ohne ein gutes Essen (oft gerne selbst zubereitet) und ein gutes Glas Wein – und binnen kurzer Zeit wusste selbstverständlich jeder dort wer gemeint war, wenn man den Namen „Hans“ erwähnte.

Als Mensch war er ein „Hans Dampf in allen Gassen“, und gleichzeitig auch ein „Hans im Glück“. Hans Schießl konnte zuvorkommend und charmant sein, aber er verlor auch schon mal die Beherrschung, insbesondere wenn sein Gegenüber ihn für dumm verkaufen wollte, oder wenn anderen Unrecht widerfuhr. Hans Schießl hatte erstaunliche Antennen im Kontakt zu anderen, er verstand es vortrefflich Gemeinschaft zu stiften, und er konnte unglaublich lustig sein. Dadurch war es ihm möglich eine schnell wachsende Gemeinschaft um sich und seine Ideen zu scharen, für die ab 2004 das „Black Forrest Forum“ auf der Burg Bad Liebenzell das jährliche Highlight wurde.

Selbstverständlich waren die Statthalter der wissenschaftlichen Elfenbeintürme seinen Ideen gegenüber skeptisch und hielten ihm vor, er (der Elektriker) sei ein „reiner Theoretiker“. Die Autoren dieser Zeilen sind aber vom Gegenteil überzeugt: Nichts ist praktischer als eine gute Theorie und eine Theorie ohne praktische Anwendbarkeit ist nutzlos – weder in der Wissenschaft noch im Leben! Mit seinen Visionen hat Hans uns drei Autoren (wie auch viele andere) auf ein Gleis zum Erfolg gestellt. Wir werden uns immer dankend an ihn erinnern, als den Sturm der unser kleines Boot stets zum Wanken brachte ohne es aber jemals fehlzuleiten oder gar sinken zu lassen.

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Hans Schießl (Quelle: Rainer Rawer).

Hans Schießl wird nicht vergessen werden und sein Wirken wird schon längst fortgeführt und vielfältig zum Nutzen der Menschheit genutzt.



Publication History

Article published online:
30 May 2022

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  • Literatur

  • 1 Schiessl H, Frost HM, Je WS. Estrogen and bone-muscle strength and mass relationships. Bone 1998; 22: 1-6
  • 2 Frost HM, Schonau E. The “muscle-bone unit” in children and adolescents: a 2000 overview In Process Citation. J Pediatr Endocrinol Metab 2000; 13: 571
  • 3 Runge M, Rittweger J. Whole-Body Vibration in Geriatric Rehabilitation. In Manual of Vibration Exercise and Vibration Therapy. Springer; 2020: 255-268
  • 4 Rittweger J. et al. Prevention of bone loss during 56 days of strict bed rest by side-alternating resistive vibration exercise (in eng). J Bone 2010; 46: 137-147 DOI: 10.1016/j.bone.2009.08.051.
  • 5 Belavy DL. et al. Evidence for an additional effect of whole-body vibration above resistive exercise alone in preventing bone loss during prolonged bed rest (in eng). Osteoporos Int 2011; 22: 1581-1591 DOI: 10.1007/s00198-010-1371-6.
  • 6 Kramer A, Gollhofer A, Armbrecht G. et al. How to prevent the detrimental effects of two months of bed-rest on muscle, bone and cardiovascular system: an RCT. Scientific reports 2017; 7: 13177 DOI: 10.1038/s41598-017-13659-8.
  • 7 Stark C. et al. Neuromuscular training based on whole body vibration in children with spina bifida: a retrospective analysis of a new physiotherapy treatment program, (in eng). Child’s nervous system: ChNS: official journal of the International Society for Pediatric Neurosurgery 2015; 31: 301-309 DOI: 10.1007/s00381-014-2577-2.