JuKiP - Ihr Fachmagazin für Gesundheits- und Kinderkrankenpflege 2022; 11(03): 131
DOI: 10.1055/a-1796-3486
BHK-Mitteilungen
Mitteilungen für die Mitglieder des Bundesverband Häusliche Kinderkrankenpflege e.V.

„Es gibt keine gute Pflege in einem schlechten Gesundheitssystem“ – die Theorie des „Cool-out“ in der Pflege nach Kersting

„Cool-out“ erinnert im Wortlaut an „Burn-out“ – beides Phänomene, die im Pflegealltag zu finden sind. „Burn-out“ – übersetzt „Ausgebranntsein“ – beschreibt ein Phänomen von einzelnen Pflegenden als Ergebnis einer zermürbenden Pflegepraxis. Burn-out zeigt auf, dass Pflegende individuell innerhalb ihres Arbeitsalltags scheitern.

Im Gegensatz dazu betrifft ein „Cool-out“ ALLE Pflegenden im Sinne eines „Sich-kalt-Machens“ in einem defizitären Praxisalltag. „Cool-out“ befähigt die Pflegenden unmerklich, sich in einem defizitären Alltag einzurichten, zu dem Preis, eine Praxis mitzutragen, die ihre eigenen Ansprüche unterläuft.

Bereits seit Ende der 1990er-Jahre forscht Prof. Dr. Karin Kersting zum Phänomen „Cool-out“ in der Pflege. Zentrales Thema ihrer Cool-out-Studien ist der unauflösbare Widerspruch zwischen Pflege, wie sie gemäß Pflegeberufegesetz sein soll, und der an Ökonomie ausgerichteten Praxisrealität. Konkret bedeutet dies: Die Umsetzung des pflegefachlichen Anspruchs im Sinne der gesetzlich geforderten Patientenorientierung trifft im Alltag auf Bedingungen, die genau dies nicht zulassen. So müssen alle Arbeiten erledigt werden, egal wie viele Pflegende zur Verfügung stehen, wie viele Menschen zu versorgen sind und wie pflegebedürftig diese sind – der reibungslose Ablauf im Alltag ist oberstes Ziel (Kersting 2016a, 1f).

Nach Kersting führt dieses beschriebene Spannungsfeld zwischen normativem Professionsanspruch und ökonomischem Alltagsdruck bei den Pflegenden zu einem sogenannten „Prozess der moralischen Desensibilisierung“. Sie verzweifeln nicht angesichts dieser Realität, sondern viele Pflegende lernen, sich dem Widerspruch gegenüber unempfindlich oder „kalt“ zu machen. Durch diese innerliche Kälte gelingt es, die Verletzung der Norm hinzunehmen, die Tatsache zu akzeptieren, dass der Pflegealltag nicht so ist, wie er eigentlich sein sollte (vgl. Gruschka 1994, 76 zit. in Kersting 2016a, 4) UND zeitgleich handlungsfähig zu bleiben und die eigene moralische Integrität zu wahren.

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Konkret erfolgt dies über unterschiedliche Anpassungsleistungen, die sogenannten Kältestrategien (Kersting 2016a, 5), wie beispielsweise durch eine naive fraglose Übernahme, bei der der Widerspruch in den Anforderungen gar nicht erkannt wird, bei Verdrängung, Idealisierung, Kompensation bis hin zur reflektierten Einsicht in die Unauflösbarkeit des Widerspruchs – so die Ergebnisse der Cool-out-Studien.

Diese zeigen auf, dass alle befragten Pflegenden über Strategien verfügen, mit denen sie mehr oder weniger widerstandslos Normverletzungen hinnehmen können. Hierbei geht es nicht um dramatische Regelverletzungen, die direkt Widerstand mobilisieren würden, wie z. B. beim Thema Sterbehilfe, sondern es sind die unscheinbaren, harmlosen Verletzungen der Regel wie z. B. nur die Durchführung einer Intimpflege, da die Zeit für eine komplette Körperpflege nicht ausreicht. Diese regelverletzenden Abläufe sind Teil des Pflegealltags und somit konstitutiv für die berufliche Sozialisation, d. h. die beruflich Pflegenden werden bereits im Lauf ihrer Ausbildung zur Regelverletzung befähigt. Letztendlich kann, so Kersting, die moralische Desensibilisierung im Pflegealltag als Teil oder sogar Kern der beruflichen Sozialisation verstanden werden (Kersting 2016b, 69).

In diesem Sinn gilt es, das „(…) strukturell angelegte Scheitern des pflegefachlichen Anspruchs (…)“ (Kersting 2016a, 16) bereits im Rahmen der Ausbildung offenzulegen. Wird dies unterlassen, kann das Scheitern personalisiert und einzelnen Pflegenden zugeordnet werden. „Cool-out“ ist aber kein individuelles Phänomen, sondern eine strukturelle Tatsache und der derzeitigen Versorgungsrealität im Gesundheitswesen geschuldet (Kersting 2016a, 16).

Stefanie Zang, Pflegeexpertin APN (Advance Practice Nursing) (M. Sc.), Dipl. Pflegewirtin (FH), Kinderkrankenschwester, Fachreferentin Pflege des BHK e. V.

Die Literaturliste kann beim BHK e. V. angefordert werden.

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Article published online:
02 June 2022

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