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DOI: 10.1055/a-1740-0375
Zwei an meinem Küchentisch
Ich liebe meinen Küchentisch. Er ist alt und schön, und wenn er reden könnte – ganze Bücher könnten damit gefüllt werden. Wann immer ich Besuch bekomme, am Ende sitzen alle an eben diesen Küchentisch.
Es ist der vierte Tag des neuen Jahres und da sitzen wir wieder einmal an diesem berüchtigten Küchentisch. Mit Plätzchen, Kaffee und auf Wunsch Prosecco. Wir stoßen auf das neue Jahr an und wünschen uns, was man sich so in Endlosschleife in den vergangenen Tagen so gewünscht hat: Glück, Gesundheit und nur das Beste. Wir kommen ins Plaudern. Meine Gäste sind Magdalena und Jacob. Junge Kollegen von meiner ehemaligen Station. Ich kenne beide noch als Krankenpflegeschüler und wir konnten sie damals nach ihren Ausbildungen für unsere Station gewinnen.
Magdalena. Gerade mal 22 Jahre jung, zierlich, blondgelockt. Sollte ich Magdalena kurz beschreiben, würden mir als erstes ihre ständig gute Laune, ihr immerwährender Eifer und ihre schiefen Gesänge einfallen. Magdalena kommt aus einem gutbürgerlichen, katholischen Haushalt. Sie hat sage und schreibe neun Geschwister. Der Vater ist Ingenieur bei der Stadt München. Die Mutter selbstständige Hebamme. Magdalena hat nach Abschluss der zehnten Klasse und einem Zwischenstopp auf der VOS die Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin absolviert. In derselben Krankenpflegeschule der Stadt wie Jacob. Nur eben einige Jahre später. Jacob ist 28 Jahre jung und in Hamburg geboren. Sohn einer Schauspielerfamilie. Das ist auch sicherlich der Grund, warum Jacob über diverse Umzüge letztendlich in München gelandet ist. Beide haben sich auf unserer Station kennengelernt – und wer hätte das gedacht: Jetzt sind sie ein Paar. Beide unbeschwert, fröhlich und klug. Dass Magdalena auf die Backstreet Boys steht – da müssen wir alle durch.
Wir unterhalten uns angeregt und lachen viel. Unter anderem darüber, dass Magdalenas Berufswunsch ein kleiner, aber feiner Irrtum zugrunde liegt. Sie wollte als Kind immer Ärztin werden. Dachte aber, dass die Krankenschwester an sich auch operieren darf. Dieser kleine Irrtum fand dann aber schnell Aufklärung. Jacob hat offensichtlich alle Berufswünsche kleiner Jungen durchlebt. Er wollte erst Schauspieler, dann Polizist werden. Hat dann doch erst Abitur gemacht, ohne zu wissen, was daraus werden soll. Das FSJ in einem großen Krankenhaus der Stadt hat die Entscheidung gebracht. Die Arbeit dort hat ihm viel Spaß gemacht, und auf einmal wusste er, dass er Arzt werden möchte. Da war ihm nur sein eigentlich respektabler Abiturschnitt von 2,3 etwas im Wege. Also lernte er erst Krankenpfleger, arbeitete ein paar Jahre in diesem Beruf, auf unserer Station. Das hat super geklappt, denn nun ist Jacob bereits im zweiten Studienjahr an der LMU.
Wir kommen in unserer Unterhaltung von „Hölzchen“ auf „Stöckchen“ und fragen uns, ob die Ideen, die hinter diesem Berufswunsch lagen, sich in der Realität erfüllt haben. Gut, Magdalena musste erst einmal erfahren, dass eine Krankenschwester eher weniger oder gar nicht operieren darf. Und ihr erster praktischer Einsatz auf einer akutgeriatrischen Station wäre auch fast ihr letzter geworden. Sie war damals knapp 17 Jahre alt und wurde ohne Erfahrungen, aber mit eigenem Bereich auf Station ins kalte Wasser geworfen. Sie selbst fand es damals eigentlich ganz „cool“, weiß heute aber, dass das auch hätte schiefgehen können. Zeitweise fühlte sie sich auch leicht überfordert und wunderte sich bei nächsten praktischen Einsätzen, dass sie gar nichts machen durfte. Jacob hat seine Ausbildung taff durchgezogen. Beide landeten dann ja auf unserer Station, wo der berufliche Ernst des Lebens begann.
Unser Beruf ist, wie wahrscheinlich jeder Beruf, von Höhen und Tiefen geprägt. Es ist erstaunlich, wie bestimmte Patienten oder Situationen auf Station in unserem Gedächtnis bleiben. Jacob schildert eine Situation, in der eine Ärztin ihn bei einer Wundheilungsstörung um Rat gefragt hat. Sie hat dann seine Ratschläge umgesetzt und sich Wochen später bei ihm bedankt, weil diese Behandlung erfolgreich war. Magdalena ist ein großer Fan guter Pflege. Nur wirklich gute Pflege ist sehr zeitaufwendig. Umso bedauerlicher findet sie es, dass das im Alltag oft gar nicht zu leisten ist. Auch die öffentliche Wahrnehmung dieses Berufs finden beide ungut. Auch jetzt, während der nicht enden wollenden Pandemie, wird immer nur von den Intensivstationen gesprochen. Aber was ist denn mit den Normalstationen? Immer voll und immer unterbesetzt. Immer ein Wettlauf gegen die Zeit, immer der Wunsch, es so gut wie möglich zu machen. Um am Ende doch viel Unzufriedenheit bei Patienten und Personal zu erleben. Beide werden nicht im Beruf bleiben. Für Jacob war es ohnehin klar, und auch Magdalena sucht Veränderung.
Mit Aufstiegsmöglichkeiten in unserem Beruf ist es ja etwas mau. Sicherlich können Weiterbildungen angestrebt werden. Fachkrankenpflege für Intensiv, Wundexperte etc. Man kann Stationsleitung werden. Aber unterm Strich bleibt man am Bett, im Wechseldienst und an Sonn- und Feiertagen. Für Magdalena käme die Intensivstation infrage oder dann doch ein Hochschulstudium. Aber für immer? Nein, danke!
Es fehlt offensichtlich an politischem Willen, Veränderungen herbeizuführen. Da reichen die Personaluntergrenzen, die selten genug eingehalten werden, oder die schon wieder gewechselte Berufsbezeichnung nicht aus. Auch die generalisierte Ausbildung scheint für Magdalena und Jacob nicht das zu bringen, was es braucht. Als extrem unangenehm empfinden beide den immer mehr im Vordergrund stehenden betriebswirtschaftlichen Aspekt in unserem Beruf. Dass es am allerwichtigsten erscheint, Geld zu verdienen, und dass der Mensch immer mehr in den Hintergrund gerät.
Wir unterhalten uns über Glück. Allein „Glück“ zu definieren, fällt uns nicht leicht. Dennoch halten sich beide für glücklich. Das fand ich sehr schön. Zwei lebensfrohe, glückliche junge Menschen. Beide mit realistischen Lebenszielen. Guter Beruf, später einmal Familie, Gesundheit. Ein zufriedenes Leben. Beide sind noch so jung und haben fast alles noch vor sich. Sie werden ihre eigenen Fehler machen und hoffentlich viel mehr gute Entscheidungen im Leben treffen. Magdalenas großes Vorbild ist ihre Mutter, was mir ja durchaus einleuchtet. Jacobs Vorbild ist Severus Snape aus Harry Potter. Gut, da bin ich jetzt raus.
Auf jeden Fall hatten wir drei einen sehr schönen Abend und ich hoffe, es folgen noch viele ähnlich schöne, inspirierende Treffen an meinem Küchentisch!
Heidi Günther
Publication History
Article published online:
06 April 2022
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