intensiv 2022; 30(02): 62-63
DOI: 10.1055/a-1721-8214
Kolumne

Manchmal muss es einfach raus

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Quelle: Paavo Blåfield/Thieme

„Man sollte nicht wirklich alles mit sich selbst verarbeiten, sondern manchmal eine kleine Beschwerde führen …“

Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), deutscher Dichter

Ich bin ein Mensch, der sich gern mal so richtig aufregt. Ich kann sehr wütend werden und auch lautstark mit Beschwerde drohen. Aber wenn der erste Unmut verschwindet und ich durchgeatmet habe, kommt mein Pragmatismus wieder durch. Die ungute Situation wird noch einmal betrachtet und dann das Beste daraus gemacht. Ich habe mich wirklich nur höchst selten in meinem Leben dazu hinreißen lassen, mich hinzusetzen und eine Beschwerde zu formulieren. Ganz im Gegenteil. Jahrelang habe ich im Beschwerdemanagement unseres Hauses mitgearbeitet. Und ich kann versichern, dass wir auf jede einzelne Beschwerde reagiert haben, auch wenn sie noch so absurd war. Und sicherlich ist auch manche gute Änderung in unserem Krankenhausalltag daraus erwachsen. Aber was zu viel ist, ist zu viel, und dann muss es auch raus.

Meine Mutter ist seit mehr als vier Monaten sehr krank. Richtig krank. Sie lag in dieser Zeit in vier Krankenhäusern Münchens. In zwei Privatkliniken und zwei Häusern der Maximalversorgung. In einem der Häuser war es für meine Mutter und uns als Familie so schlimm, dass auch ich mit meinem Pragmatismus und jedem besten aufgebrachten Willen nicht weiterkam. So entstand in Auszügen nachfolgende Beschwerde:

Sehr geehrte Damen und Herren, meine Mutter liegt seit zehn Tagen in Ihrem Haus. Sie ist eine 82-jährige kognitiv altersgerechte, bescheidene, freundliche, gepflegte Frau. Allein ihr Gesundheitszustand ist für die ganze Familie ein Grund großer Sorge und wir alle vertrauen auf eine optimale, erfolgreiche ärztliche Versorgung. Diese, so berichtet meine Mutter, ist sehr gut und auch ich habe regelmäßig Kontakt zu den behandelnden Ärzten.

Nun kommt aber eine größere Sorge dazu, die ich für unmöglich gehalten und so noch nie erlebt habe. Die pflegerische Versorgung meiner Mutter findet sehr rudimentär statt. In Ihrem Pflegeleitbild heißt es: „Wir vermitteln Sicherheit und Geborgenheit durch fachliche Kompetenz. Wir sehen Patientinnen und Patienten als Partner und arbeiten mit ihnen zusammen für ihre Gesundheit.“ Wenn ich die bisher erbrachte (oder eben nicht erbrachte) Versorgung meiner Mutter erlebe, klingt dieser Satz wie ein Hohn. In den ersten Tagen ihres Aufenthalts bei Ihnen war ich noch zurückhaltend und freundlich. Ich habe eingesehen, dass mir die zuständige Pflegekraft aus Datenschutzgründen keine Auskunft über meine Mutter geben wollte. Diese Auskünfte habe ich dann ausführlich von den Ärzten bekommen. Nach sechs Tagen habe ich – auch sehr freundlich – telefonisch darum gebeten, dass das Bett meiner Mutter bezogen und vielleicht auch mal das Trinkglas ausgewechselt wird. In den ersten Tagen bat meine Mutter um eine Tasse Tee. Ihr wurde mitgeteilt, diese könne sie sich in der Teeküche selber holen. Nein, kann sie nicht! Sie hat in den ganzen zehn Tagen eine Tasse Tee von einer Pflegekraft bekommen, um die ich gebeten hatte. Sie trinkt außer der Tasse Kaffee zum Frühstück und dem, was ich ihr bringe, nur das Wasser, das ihr am Morgen hingestellt wird. Im Zuge der Verschlechterung ihres Allgemeinzustands wird sie auch zunehmend immobiler. Noch nicht ein einziges Mal hat eine Pflegekraft gefragt, wie sie ins Bad kommt oder ob sie Hilfe bei der Grundpflege benötigt. Sie hangelt sich abenteuerlich auf dem Rollator sitzend am Handlauf im Zimmer zum Bad. Da sie im Moment allein im Zimmer liegt (Isolation wegen Kontakt der Bettnachbarin mit einem Corona-positiven Angehörigen) und die Rundgänge der Pflegekräfte sehr sporadisch sind, würde sie nach einem Sturz unter Umständen erst nach Stunden gefunden werden.

Am vergangenen Freitag, nachdem meine Mutter zwei Tage auf einem blutverschmierten Laken lag, habe ich mich entschlossen, meine Mutter zu duschen, das Bett zu beziehen und die Verbän de zu erneuern. Ein Kompressionsverband an den Beinen wurde angelegt und über Tage belassen, war als solches gar nicht zu erkennen und verfehlte damit jedes therapeutische Ziel. Der Verband an der Braunüle war altblutig, verkrustet und roch schon unangenehm. Als ich um Bettwäsche bat, bekam ich diese auch sofort. Als ich die Pflegekräfte, die zu dritt an einem Kurvenwagen auf dem Flur der Station standen, um noch ein zusätzliches Kissen bat, wurde ich sehr rüde darauf hingewiesen, dass gerade Übergabe wäre und ich nicht (O-Ton) dazwischenzuquatschen hätte. Komisch, in diesem Moment war Datenschutz kein Thema mehr. Übergabe während der regulären Besuchszeit auf dem Flur?! Später habe ich vom Zimmer meiner Mutter aus geklingelt, um Verbandsmaterial zu bekommen. Da sagte mir die Pflegekraft, sie würde ihre Arbeit schon noch machen. Nein, den Eindruck habe ich nicht! Übrigens würde mich die Pflegedokumentation sehr interessieren. Viel kann da nicht dokumentiert worden sein. Abgesehen davon, dass die Vitalzeichen relativ regelmäßig gemessen werden und meiner Mutter – von offensichtlich der Versorgungsassistentin – die Mahlzeiten gereicht werden, ist nichts passiert. Keine Pflege, keine Mobilisation, keine Prophylaxen. Da sie ja fortwährend Infusionen bekommt, interessiert es niemanden, ob und was sie isst oder trinkt.

Die Pflege hat in diesem Land keine Lobby und wird in der Öffentlichkeit nur beklagt. Jetzt weiß ich auch warum. Ich bin entsetzt über die Umstände auf dieser Station. Da meine Mutter niemandem zur Last fallen will, nie unfreundlich war oder etwas eingefordert hat, gehe ich davon aus, dass es nicht nur ihr so geht. Und das finde ich traurig, wenn nicht sogar gefährlich für meine Mutter, alle anderen Patienten und beschämend für unseren Beruf. Zumal ich dafür Sorge trage, dass fremde, kranke Menschen jeden Tag gut gepflegt werden und meine eigene Mutter so desolat bei Ihnen liegt.

Dieser Brief soll keine Beschwerde sein. Ich erwarte auch keine Antwort. Es ist eher ein Zustandsbericht, der aufzeigt, wie schlecht Ihre Pflege ist und wie sich dabei der Patient und seine Angehörigen fühlen.

Soweit Auszüge aus meinem Schreiben. Die Bereichsleitung hat sehr schnell darauf reagiert und sich von da an täglich bei meiner Mutter nach ihrem Befinden erkundigt. Aber ist erst ein Schreiben nötig, um augenscheinliche Mängel zu erkennen und bestenfalls zu beheben? Auch ich kenne Personalmangel, Überlastung, gerade jetzt durch die Coronasituation. Ich weiß, wie anstrengend die Versorgung von Patienten ist, die aufwendige Pflege benötigen oder nicht gut „mitmachen“ können. Und wie schwierig der Umgang mit Angehörigen sein kann. Es tut mir auch ein bisschen leid, dass ich nun zu genauso einer Angehörigen geworden bin. Aber ich weiß auch, dass es viel besser geht. Dennoch habe ich mich entschlossen, öffentlich aufzuzeigen, wie schlecht Pflege sein kann. Ich will zeigen, wie heuchlerisch öffentlich dargestellte Pflegeleitbilder sein können, woher der oft schlechte Ruf der Pflege kommt. Vielleicht ist diese Kolumne dann für die eine oder andere Pflegekraft ein Denkanstoß. Jedem von uns kann es passieren, dass die Mutter, der Vater oder ein anderer Angehöriger in so eine Situation kommt, die uns mehr als besorgt und ungläubig zurücklässt.

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Heidi Günther

guenther-heidi@web.de



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Article published online:
07 March 2022

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