PiD - Psychotherapie im Dialog 2022; 23(04): 103
DOI: 10.1055/a-1711-8573
Backflash

Dies ist keine Kreuzfahrt, sondern eine Passage

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(Quelle: Bettina Wilms)

Gehören Sie zu den Menschen, die „Titanic“ lieben? Kate Winslet am Bug des Schiffes, von Verzweiflung und ganz viel kaltem Wasser umgeben…

Irgendwann, dachte ich, muss es mal sein, dass ich das ausprobiere. Nein, nicht das mit dem Suizidversuch, und auch nicht mit dem Schiffbruch – aber sehr wohl den „Weg“ nach New York mit dem Schiff: sich einfühlen in die Motivation der Auswandernden, sich den Tagen auf See aussetzen, der Erwartung, „Lady Liberty“ guten Morgen sagen zu können…

Ja, es wäre durchaus schlüssig, wenn Sie jetzt annähmen, ich sei eine rettungslos verlorene Romantikerin (dabei kann ich gerade das mit der Romantik eher schlecht) oder vielleicht einfach ziemlich verschroben. Jedoch: Die Zeit des „Irgendwann“ kam: In Hamburg besuchten wir am Morgen das Auswanderermuseum, und dann gings auf Schiff.

„Wir waren noch nie auf einer Kreuzfahrt“ hörten wir aufgeregte Mitreisende betonen. Allerdings bezog der Kapitän dazu in seiner ersten Ansprache ungefragt sehr entschieden und gegenteilig Stellung: Vor uns läge eben keine Kreuzfahrt, sondern eine Passage! Wir befänden uns auf einem mit zahlreichen Annehmlichkeiten ausgestatteten Schiff, das Ziel sei der Weg nach New York; und dies müsse er auch gleich mitteilen: Das Wetter werde sich voraussichtlich nicht urlaubstauglich verhalten.

Was es dann auch nicht tat. Ich verbrachte bei steifer Brise, wie üblich, einige Stunden mit Seekrankheit in der Horizontalen in der Kabine, und draußen an Deck war warme, wetterfeste Kleidung angesagt. Dieses Schiff sei noch ein Schiff und genau dafür gemacht, dem Atlantik die Stirn zu bieten, betonte einer, der sich auskannte, an einem der langen Abende – befasste er sich doch von Berufs wegen mit der Geschichte der Ozeanriesen, konstruiert in der Hoffnung, eben nicht das Ende der Titanic zu nehmen und dennoch nicht als schwimmender Wolkenkratzer daherzukommen.

Die Tage verliefen irgendwie uniform, auf eine besondere Weise entschleunigt und meistens mit einer Stunde mehr, die in der Nacht dazu kam. Nahezu unmerklich dem Jetlag entronnen lichtete sich kurz vor Neufundland der Nebel, es wurde wärmer und sonniger. Auswandern wollte übrigens, unserer Kenntnis nach, niemand. Aber das Schiff brachte die meisten von uns zu etwas Anderem, als wir von Bord gingen, wie in einen neuen Aggregatzustand hinein. Es lag eben eine Passage hinter uns…

…die mit einem sehr urlaubsreifen Sonnenaufgang über Manhattan auf einem besonderen Schiff ihr Ziel erreichte.

Dr. Bettina Wilms, Querfurt



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Artikel online veröffentlicht:
17. November 2022

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