Z Geburtshilfe Neonatol 2021; 225(06): 534-536
DOI: 10.1055/a-1588-2867
Geschichte der Perinatalmedizin

„Was unser Kind wiegt.“ – Historische Wiegekarten aus der BRD und der DDR

Matthias David
,
Andreas D. Ebert

Eine Wiegekarte dient der Dokumentation der Gewichtsentwicklung des Säuglings bzw. Kleinkindes in den ersten Lebensmonaten, wobei neben dem Datum auch mindestens das Körpergewicht notiert wird. Weitere ergänzende Eintragungen, z. B. zum genauen Lebensalter des Kindes, bei Flaschennahrung zur getrunkenen Nahrungsmenge (in ml) und andere Bemerkungen sind möglich.

Solche Wiegekarten gibt es in verschiedenen, teils einfachen, teils aufwendigen Ausführungen schon seit mehr als 100 Jahren, wie ein vierteiliges, farbiges Mobile mit dem Titel „Was unser Kind wiegt“ und fast vollständig ausgefüllten Tabellen mit Gewichtsangaben und Datum vom Ende des 19. Jahrhunderts zeigt [1].

Nachfolgend werden zwei Original-Wiegekarten aus der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vor- und gegenübergestellt.

In der frühen DDR war mit dem am 27. September 1950 verabschiedeten „Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau“ [2] beschlossen worden, „…im Laufe der Jahre 1951 bis 1955 zusätzlich zu den vorhandenen weitere 190 Mütter- und Kinderberatungsstellen zu eröffnen, damit in jedem Kreis durchschnittlich nicht weniger als drei Beratungsstellen vorhanden sind.“ Diesen Beratungsstellen oblag u. a. die „die ärztliche Betreuung der stillenden Mütter“ und die „die ärztliche Beobachtung der Gesundheit und der Entwicklung der Kleinkinder bis zum 3. Lebensjahr…“ (§ 6, Abschnitt 1 und 2 des o.g. Gesetzes). Hier wurden auch die Wiegekarten ([Abb. 1]) ausgefüllt und den Müttern ausgehändigt [3].

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Abb. 1 Wiegekarte aus der DDR, Vorder- und Rückseite einer Klappkarte (Format A5). Quelle: Sammlung M. David.

In der BRD trat am 24. Januar 1952 das „Gesetz zum Schutz der erwerbstätigen Mutter” in Kraft, das bis heute eine wesentliche Grundlage für den gesetzlichen Mutterschutz in Deutschland darstellt [4].

Die dargestellte Originalstillkarte aus der BRD stammt aus dem Jahr 1956 ([Abb. 2]). Die Vorderseite zeigt eine Schwarz-Weiß-Grafik mit einem Säugling in einer Wiege, die von einigen Tieren umstanden und von einer lachenden Sonne bestrahlt wird, verbunden mit einem Glückwunsch zur Geburt [5]. Auf der Rückseite der Karte findet sich in gleicher Machart eine Reklame für eine Vollkornnahrung, die „…ohne Überfütterung des Säuglings in zahlreichen Kliniken im Gebrauch…“ sei. Auf der Innenseite der Wiegekarte bittet das Gesundheitsamt für die Kreise Obertaunus und Usingen darum, „…im Interesse Ihres Kindes die kostenlosen Beratungsstellen zu besuchen. Mütterberatung in Bad Homburg jeden Donnerstag um 14.30 Uhr. In allen anderen Kreisorten sind die Beratungen durch die ortsüblichen Bekanntmachungen zu erfahren.“ Die rechte Innenseite wird von einer 19-zeiligen, dreispaltigen (=Datum, Gewicht, Bemerkungen) Tabelle völlig ausgefüllt. In der vorliegenden Originalkarte von 1956 sind insgesamt sind nur fünf Einträge vorhanden, die die Gewichtsentwicklung des Säuglings 2, 3, 4, 6 und 8 Monate post natum dokumentieren (Gesundheitsamt Kreise Obertaunus u. Usingen, Wiegekarte, 1950er Jahre).

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Abb. 2 Wiegekarte aus der BRD, Vorder- und Rückseite einer Klappkarte (Format A5). Quelle: Sammlung M. David.

Der Aufbau des auf der Vorderseite der Klappkarte auch explizit als „Wiegekarte“ bezeichneten Dokuments, das in der DDR von den 1950er- bis mindestens in die späten 1970er-Jahre Verwendung fand, ist deutlich anders als bei der „Wiegekarte West“. Beide Außenseiten dieser Karte von 1961 enthalten sehr viel, teils informierenden, teils belehrenden Text, der sich nahezu ausschließlich der Stillpropaganda widmet und mit den warnenden Worten „Mutter, wenn Du Dein Kind lieb hast und es behalten willst, dann stille es selbst!“ beginnt. Auf der Vorderseite erkennt man im Hintergrund ein ähnliches Motiv wie auf der „West-Wiegekarte“ – eine Kinderwiege, auf der vorliegenden Version von 1961 in Gelb gedruckt. Die Wiege ist in jüngeren Varianten aber auch in anderen Farben zu finden. Gedruckt wurden diese (zweifarbigen) Karten im Vordruckleitverlag (VLV) Dresden auf dem leider gewohnt schlechten, nicht holzfreien, bräunlichen „DDR-Papier“. In einer jüngeren Karte aus der Mitte der 1960er-Jahre, gedruckt im VLV Freiberg, wurde weniger angstmachend nur noch gefordert: „Mutter, stille dein Kind!“ [6]. Der weitere, auf beiden Karten identische Text, der enggedruckt die Vorder- und Rückseite der „Ost-Wiegekarte“ ausfüllte, stellt in einem populärwissenschaftlichen Duktus die Gründe für das Vollstillen vor. Interessanterweise wird die angesprochene Mutter, anders als in dem kurzen Text der „Version West“ der Wiegekarte, geduzt. Die fünf Zwischenüberschriften, die entweder als Frage oder als Apell formuliert sind, geben den transportierten Inhalt sehr gut wieder: „Einen vollwertigen Ersatz für Muttermilch gibt es nicht!“, „Muttermilch ist immer frei von Krankheitskeimen“, „Wie stillst Du?“, „Komme nicht mit der Flasche!“ (auch hier ein deutlicher Gegensatz zur „Version West“ mit der Werbung für Ersatznahrung) und „Wie entsteht Muttermilch?“. Zweimal wurde auf die materiellen Vorteile des Stillens für die Stillende eingegangen. Auf der Vorderseite der „Ost-Wiegekarte“ heißt es dazu: „Um die Stillfreudigkeit zu heben, erhälst Du bis zu einer Stilldauer von 6 Monaten in jedem Monat 10.- DM…“. Voraussetzung war allerdings, dass die Mutter mindestens 2-mal am Tag stillte und dass sich die Mitarbeiterinnen der Mütterberatungsstelle von ihrer Stillfähigkeit überzeugten. Auf der Rückseite wurde für den Besuch dieser Beratungsstellen im 1. Lebensjahr des Kindes geworben und es wurde darauf hingewiesen, dass die vom „…Arbeiter- und Bauernstaat gewährte Beihilfe bei der Geburt eines Kindes nur dann voll ausgezahlt wird, wenn die Mutter regelmäßig in den ersten 4 Lebensmonaten […] mit ihrem Kind die Beratungsstelle aufsucht.“

Die Tabelle auf der Innenseite umfasst 7 Spalten. Eingetragen bzw. ausgefüllt werden sollten: Das Datum der Vorstellung in der Mütterberatung, jeweils aktuelles Gewicht und Länge des Säuglings bzw. Kleinkindes, der „Stillstatus“ mit Hilfe von 3 Symbolen (o=voll gestillt; x=Zwiemilch;/ = künstliche Ernährung), das Datum der Wiedereinbestellung und Bemerkungen sowie die Dekristol-Verabreichung. Auf der linken Innenseite heißt es unter dem Eintrag des Geburtsgewichts: „Dein Kind braucht Dekristol 6mal“. Auf die Rachitisprophylaxe mit Vitamin-D-Gaben wurde großer Wert gelegt. Die erste Dekristol-Gabe sollte im 2. und die letzte im 20. Monat nach der Geburt erfolgen, so dass letztlich die Vorstellungsintervalle in der Mütterberatung bis fast zum Ende des 2. Lebensjahrs vorgegeben waren.

Der Text auf der „Wiegekarte Ost“ endet mit folgender Aufforderung an die stillende Mutter: „Melde die Hebamme oder Schwester, durch deren Ratschläge und Betreuung es Dir möglich wurde, Dein Kind 5 bis 6 Monate voll zu stillen, der Abt. Gesundheitswesen. Das Gesundheitswesen will seine besten Mitarbeiter kennenlernen“.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
16. Dezember 2021

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