Klinische Neurophysiologie 2021; 52(03): 212
DOI: 10.1055/a-1477-4917
Geschichte der klinischen Neurophysiologie

Historical paper: Nicht-invasive transkranielle Magnetstimulation des menschlichen Motorkortex

Würdigung der Publikation: Barker AT, Jalinous R, Freeston IL. Non-invasive magnetic stimulation of the human motor cortex. Lancet (1985)

Gerade einmal fünf Jahre waren vergangen, nachdem Merton und Morton ihre Arbeiten über nicht-invasive transkranielle Elektrostimulation des menschlichen Motorkortex publiziert hatten [1]. Die Erkenntnis, dass die Hirnrinde erregbar ist, war zu diesem Zeitpunkt schon vor 110 Jahren gemacht worden [2]. Versuche, die Hirnrinde durch die intakte Kopfhaut zu reizen, waren aber nicht erfolgreich. Erst die Anwendung von Hochvolt-Einzelreizen mit sehr kurzer Reizzeit führte zum Erfolg [1]. Es kam zu einer raschen Ausbreitung der Methode; ab 1985 wendeten sich die Neurophysiologen aber schon einer anderen, neuen Methode zu.

Denn die erfolgreiche Anwendung der transkraniellen Elektrostimulation [1] führte immer noch zu hohen Stromflüssen in der Kopfhaut, die in der Lage war, sämtliche Schmerzfasern zu erregen. Einfacher gesagt: die Methode war immer noch recht schmerzhaft. Hier setzt die bahnbrechende Idee von Barker ein [3]: Haut und Knochen setzen zwar dem elektrischen Strom erheblichen Widerstand entgegen, nicht aber einem magnetischen Feld. Zwar ist die effektive Reizung der Hirnrinde auch bei der Magnetstimulation ein elektrischer Stromfluss. Dieser ist aber nicht der „Rest“ eines viel größeren Stromflusses auf der Kopfhaut, sondern das Ergebnis einer Induktion eines kleinen Stromflusses durch ein magnetisches Feld im Bereich der Hirnrinde selbst.

Wenn man sich diese Publikation [3] ansieht, so fällt auf, dass physikalische Erklärungen knapp gehalten sind. Man mag daraus schließen, welche Einschätzung der Physiker Barker über seine überwiegend medizinischen Leser im Lancet hatte. Etwas ausführlicher kann man von der gleichen Arbeitsgruppe über die technischen Überlegungen in einer früheren Publikation nachlesen, bei der allerdings periphere Nerven stimuliert wurden [4]. Die technischen Anforderungen bestanden darin, ein gepulstes Magnetfeld mit hoher Feldstärke, aber extrem kurzer Anstiegszeit zu erzeugen. Die Autoren lösten diese Aufgabe, indem sie 12 Kondensatoren parallel schalteten und synchron entluden.

Kurz nach der Publikation 1985 wurden zunächst die Ergebnisse der transkraniellen Elektrostimulation verglichen mit der neuen magnetischen Methode: Dabei zeigten sich geringfügig unterschiedliche Latenzen in der kortiko-muskulären Leitzeit. Diese wurden damit erklärt, dass mit der transkraniellen Elektrostimulation die Axone bereits unterhalb der Pyramidenzellen gereizt wurden (direkte Wellen, „d-waves“), während mit der Magnetstimulation aufgrund einer anderen Richtung der Feldlinien mehr intrakortikale Elemente, die den Pyramidenzellen vorgeschaltet sind, erregt werden (indirekte Wellen, „i-waves“).

Das Prinzip der zentralmotorischen Leitzeit bei demyelinisierenden und auch axonalen Erkrankungen des Gehirns und des Rückenmarks wurde bei einer Reihe von neurologischen Erkrankungen untersucht. Klinisch hat die zentralmotorischen Leitzeit („NLG des zentralen Nervensystems“) Eingang in die elektrophysiologische Routineuntersuchung bis zum heutigen Tage gefunden. Parallel dazu haben sich aber viele neue Anwendungen in Wissenschaft und Klinik entwickelt. Eine frühe Variante war die Entwicklung der acht-förmigen Spule. Es folgten Doppelreize in kurzen Abständen über verschiedenen Hirnarealen u. a. zur Untersuchung der transkallosalen Hemmung, sowie Doppelreize zur Erfassung der intrakortikalen Inhibition und Exzitation. Das weite Feld der repetitiven Stimulation wird von Neuropsychologen bis zu seiner Anwendung im Bereich der Psychiatrie beforscht. Der Trend, transkranielle Magnetstimulation wissenschaftlich zu untersuchen, ist ungebrochen. Pubmed listet unter der Suche „transcranial magnetic stimulation“ im Jahr 2000 259 Arbeiten, im Jahr 2010 978 und 2020 1586 Publikationen.

Was war das für eine Entwicklung, nachdem sich die wissenschaftliche Welt vor 1870 weitgehend einig war, dass die Großhirnhemisphären „absolut unerregbar“ seien [2] verbunden mit der Auffassung, dass es in der Großhirnrinde keine spezialisierten Zentren gebe!



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
13. September 2021

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  • Literatur

  • 1 Merton PA, Morton HB. Stimulation of the cerebral cortex in the intact human subject. Nature 1980; 285: 227
  • 2 Fritsch G, Hitzig E. Über die elektrische Erregbarkeit des Großhirns. Arch Anat Physiol Wissen 1870; 37: 300-332
  • 3 Barker AT, Jalinous R, Freeston IL. Non-invasive magnetic stimulation of human motor cortex. Lancet 1985; 1: 1106-1107
  • 4 Polson MJ, Barker AT, Freeston IL. Stimulation of nerve trunks with time-varying magnetic fields. Med Biol Eng Comput 1982; 20: 243-244