Nervenheilkunde 2021; 40(07): 492-510
DOI: 10.1055/a-1389-6941
Editorial

Unsere Vorfahren

Crashkurs und Update
Manfred Spitzer

Zusammenfassung

Noch vor etwa 20 Jahren stellte man sich die Entstehung des Menschen als eine relativ gradlinige Entwicklung vor, die mit dem gemeinsamen Vorfahren von uns und den Schimpansen vor etwa 7 Millionen Jahren begann und mit uns, dem Homo sapiens aufhörte. Dem ist nicht so, wie Funde aus dem letzten halben Jahrhundert und groß angelegte Untersuchungen und Vergleiche von Genen vieler heutiger Menschen, sowie einiger historischer und prähistorischer Menschen, in den vergangenen 10 Jahren zeigten. Vor 4–2 Millionen Jahren gab es affenartige Wesen, die Australopithecine (Singular: Australopithecus) und vor 2,5 Millionen Jahren die ersten Vertreter der Gattung Mensch (Homo). Bis 2 Millionen Jahre reicht das Alter der Funde von Homo erectus zurück, dessen Gehirnvolumen im Laufe von mehr als einer Million Jahren dann von 800 cm3 auf 1200 cm3 zunahm und der dem modernen Menschen schon sehr ähnlich war. Vor 2 Millionen Jahren verbreitete er sich aus Afrika heraus nach Europa und Asien, wo der Neandertaler (in Europa) und der Denisovan-Mensch (in Asien) sich aus ihm vor etwa 400 000 Jahren entwickelt hatten. Vor etwa 200 000 Jahren entstand aus Homo erectus in Afrika Homo sapiens und wanderte vor etwa 50 000 Jahren nach Europa und Asien. Diese 3 Gruppen zeugten Nachkommen miteinander, sodass die Gene des Neandertalers vor allem in Europa und die des Denisovaners vor allem in Asien noch heute in der Bevölkerung zu finden sind. Durch genetische Analysen gelang innerhalb des vergangenen Jahrzehnts die Rekonstruktion der Ausbreitung des heutigen Menschen in einem noch vor 20 Jahren unvorstellbarem Detailreichtum. Die Konsequenzen dieser Erkenntnisse reichen mittlerweile bis hinein in die personalisierte Medizin und werden uns noch lange beschäftigen.

Die Paläontologie (altgriechisch palaiós: „alt“, óntos: „seiend“ und logos: „Wort“) ist die „Wissenschaft vom alten Kram“, den man ausgräbt (lateinisch fossilis: „ausgegraben“) und bei dem es sich um die körperlichen Überreste von Pflanzen und Lebewesen sowie sonstige Zeugnisse (z. B. Fußspuren) handelt. Diese Wissenschaft von allem, was älter ist als 10 000 Jahre, ist mit etwa 150 Jahren selbst vergleichsweise jung, denn die Geschichtsschreibung, die sich auf die Zeit danach bezieht, gibt es schon seit etwa 2500 Jahren. Die Paläoanthropologie untersucht die Entstehung des Menschen im Laufe der Evolution, ausgehend von, und eingebettet in, die Evolution der Primaten. Mit Antworten auf die Frage „Wie entstanden wir?“ trägt sie zum Selbstverständnis des Menschen bei, also zur Frage „Wer sind wir?“ [37]. Zahlreiche neue Fossilienfunde und vollkommen neue Untersuchungsmethoden aus anderen Wissenschaften haben zu erheblichen Fortschritten, komplexen Überlegungen und einer Vielzahl neuer Erkenntnisse geführt.

Insbesondere die Genetik und die Möglichkeit der genetischen Untersuchung von Fossilien, prähistorischen und historischen Menschen aus Gräbern, sowie die breite Untersuchung des Genoms von Menschen weltweit haben zu überraschenden Erkenntnissen geführt. Wenn kein Erbgut mehr zu finden ist, kann die Analyse von Proteinen in oder an fossilen Zähnen und Knochen noch weiteren Erkenntnisse liefern und die Daten ergänzen. Mittlerweile gelang es sogar, Archäologie ohne Funde, also buchstäblich nur mit „Dreck“ aus bekannten Fundstellen von Fossilien zu betreiben [88], [104]. Durch die Analysen von aDNA (ancient DNA) unserer nächsten Verwandten und historischer Vorfahren wurde es im vergangenen Jahrzehnt möglich, den Stammbaum und die Verbreitung des heutigen Menschen in einem nie dagewesenen Detailreichtum zu beschreiben [49], [73], [95].



Publication History

Article published online:
09 July 2021

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany