Pneumologie 2020; 74(08): 481-483
DOI: 10.1055/a-1209-4999
Pneumo-Fokus

Musizieren während der Corona-Pandemie – Risikoeinschätzung einer Coronavirus-Infektion im Bereich Musik

Interview mit Prof. Dr. Dr. Claudia Spahn und Prof. Dr. Bernhard Richter
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Abb. 1 Ob Blasmusiker in einem Orchester oder Sänger in einem Chor – auch beim gemeinsamen Musizieren sind in Corona-Zeiten Sicherheitsmaßnahmen zu beachten. (Bildquelle: Prof. Schönhofer)
Hintergrund Im Dezember 2019 wurden erstmals in China Erkrankungen mit dem bis dato nicht bekannten Coronavirus SARS-CoV-2 beschrieben. Die Infektion breitete sich schließlich als Pandemie weltweit aus. Das neuartige Coronavirus erhielt den offiziellen Namen „SARS-CoV-2“, klinisches Bild und Erkrankung werden als „COVID-19“ bezeichnet. Eine Infektionsübertragung durch infizierte Personen erfolgt nach heutigem Kenntnisstand über drei Wege: Tröpfchen-, Aerosole- und Schmierinfektionen. Der Lockdown im März 2020 bedeutete für alle musikalischen Genres zunächst das vorläufige Ende aller musikalischen Aktivitäten, insbesondere für professionelle Musiker und Laienmusiker im öffentlichen Raum. Auch die Proben vor Konzerten, die ja i. d. R. nicht in den großen Sälen, sondern eher in kleinen, nicht oder unzureichend belüfteten Räumen stattfinden, waren durch die Verordnungen während des Lockdowns behördlich untersagt. Dieses Verbot betraf auch den Gesangs- und Instrumentalunterricht an Musikhochschulen, Musikschulen und anderen Ausbildungseinrichtungen. Vor der Pandemie existierten keine wesentlichen wissenschaftlichen Untersuchungen zu Luftbewegung, Produktion und Verteilung von Tröpfchen bzw. Aerosolen insbesondere beim Musizieren mit Blasinstrumenten und beim Singen. Aufgrund der bekannten Übertragungswege von SARS-CoV-2 besteht eine potenzielle Gefahr einer Infektion durch virushaltige Tröpfchen und virushaltige Aerosole beim Musizieren mit Blasinstrumenten und beim Singen. Vor diesem Hintergrund trifft man häufig die Vermutung an, dass es beim Blasen und Singen zur verstärkten Produktion von Tröpfchen und Aerosolen und deren starker Verteilung im geschlossenen Raum kommt. Zusätzlich entsteht in Blechblasinstrumenten Kondenswasser, das in den Spielpausen abgelassen wird und das Viren enthalten kann. Gleiches trifft auch für Spuckepartikel zu, die bei bestimmten Konsonanten und forcierter Stimmgebung beim Singen aus dem Mund in die Umgebung verteilt werden. Andererseits werden Aerosole bei Blasinstrumenten infolge des Kontaktes an Oberflächen des Röhrensystems innerhalb des Instruments zum relevanten Anteil adsorbiert; damit reduziert sich deren Konzentration im Luftstrom vom Eintreten bis zum Verlassen des Instrumentes. Vor diesem Hintergrund haben Prof. Dr. med. Dr. phil. Claudia Spahn und Prof. Dr. med. Bernhard Richter vom Freiburger Institut für Musikermedizin (FIM) am Universitätsklinikum und der Hochschule für Musik in Freiburg in enger Zusammenarbeit mit den Bamberger Philharmonikern systematische Untersuchungen hierzu durchgeführt. Sie veröffentlichten am 1. Juli 2020 das 3. Update zur „Risikoeinschätzung einer Coronavirus-Infektion im Bereich Musik“ welches bereits in 6 weitere Sprachen übersetzt wurde (https://www.mh-freiburg.de/hochschule/covid-19-corona/risikoeinschaetzung).

Frau Prof. Spahn, Herr Prof. Richter, da sich die Ergebnisse Ihrer Untersuchungen z. Zt. noch in der Auswertung befinden, wurde für diese Veröffentlichung bewusst das Format eines Interviews gewählt, um unsere Leser auf diesem Weg über den aktuellen Stand und die vorläufigen Ergebnisse zur Verteilung von Tröpfchen und Aerosolen und damit eine indirekte Risikoeinschätzung einer Coronavirus-Infektion im Bereich der Musik zu informieren. Wie haben Sie aus der Sicht der Musizierenden den Beginn der COVID-19-Pandemie im Februar und März 2020 erlebt?

Spahn/Richter: Das war für alle ein Schock. Nicht mehr gemeinsam proben und nicht mehr in Gruppen vor Publikum auftreten zu können war auf unterschiedlichen Ebenen für die Betroffenen sehr belastend: persönlich, psychisch und für die professionell Tätigen auch ökonomisch.

Welche wesentlichen Fragen aus dem Bereich der professionellen Musik und der Laienmusik haben sich in den vergangenen Monaten zu musikalischen Aktivitäten i. R. der COVID-19-Pandemie ergeben?

Zunächst galt es zu verstehen, wie sich das Virus überhaupt verbreitet. Am Beginn der Pandemie gingen das Robert Koch-Institut (RKI) und auch die WHO davon aus, dass vornehmlich Tröpfchen- und Schmierinfektionen stattfinden. Nach neuerem Wissensstand wurde jetzt von beiden Institutionen auch die Verbreitung über virushaltige Aerosole als dritter Infektionsweg erkannt.
Nun kann die Musikwelt nicht schlauer sein als die Experten des RKI, man musste also in der Musikwelt auch mit- und umdenken. Mittlerweile gibt es nicht nur klarere Vorstellungen darüber, wie sich das Virus verbreitet, sondern es gibt von unterschiedlichen Arbeitsgruppen Konzepte, wie man die bekannten Risiken so reduzieren kann, dass ein schrittweiser Wiederbeginn der musikalischen Aktivitäten auch in Gruppen möglich wird.

Welche potenziellen Risiken, welche Risikoeinschätzung zur Infektion mit COVID-19 im Bereich der Musik im professionellen und im Laienmusikbereich während der Pandemie wurden bisher von Ihnen identifiziert?

Wir haben in unserer Risikoeinschätzung, die insgesamt mehr als 30 Seiten umfasst, dazu detailliert Stellung genommen. Kurz gesagt kann man formulieren: Das Risiko in geschlossenen Räumen steigt, wenn sich viele Menschen ohne Wahrung der Abstandsregeln lange in einem engen Raum ohne Lüftung aufhalten. Es sinkt, wenn das Raumvolumen sehr groß ist bzw. der Raum gut belüftet ist, wenn sich eine begrenzte Anzahl von Personen für eine begrenzte Zeit unter Wahrung der Abstandsregel und gleichzeitigem Tragen einer chirurgischen Gesichtsmaske in einem solchen Raum aufhalten. Am geringsten ist das Risiko generell im Freien, wenn die Abstandsregeln gewahrt werden.

Vorläufige Ergebnisse der Untersuchungen

Als Vertreter der Hochschule für Musik in Freiburg haben Sie in enger Zusammenarbeit mit Dipl.-Ing. Schubert von der Firma Tintschl bei den Bamberger Philharmonikern erste systematische Untersuchungen zu Luftströmungen pro Zeiteinheit an unterschiedlichen Blasinstrumenten und bei drei Sänger*innen durchgeführt. Welchen konkreten Versuchsaufbau zur Luftbewegung beim Musizieren mit den unterschiedlichen Instrumenten haben Sie bei den Bamberger Philharmonikern gewählt?

Wir haben die Ausbreitung von Luft bei Sängern und Bläsern untersucht – und zwar qualitativ und quantitativ. Für die Messungen wurde von den Bamberger Symphonikern das Ingenieurbüro Tintschl Bio Energie- und Strömungstechnik beauftragt. Wir waren als musikermedizinische Beobachter dazu geladen. Es wurden zwei Verfahren angewendet. Einmal ein Bühnennebel, der von der Tröpfchenkonfiguration her einem Aerosol ähnlich ist. Dieser wurde um die Sänger und Bläser herum ausgebreitet. Dabei konnte man beobachten, inwieweit dieser Nebel beim Musizieren verwirbelt wird. Bei den meisten Blas- und Singvorgängen waren kaum Luftbewegungen sichtbar, mit Ausnahme der Flöteninstrumente und der Artikulation von Konsonanten der Sänger. Außerdem wurden die Luftgeschwindigkeiten in definierten Abständen mit Messsonden erfasst.

Auch wenn die Auswertung der Messergebnisse noch nicht vollständig abgeschlossen ist, welche vorläufigen Erkenntnisse konnten bei den Untersuchungen zur Strömungsvisualisierung bei Bläser*innen und Sänger*innen gewonnen werden?

Das wichtigste Ergebnis war, dass im Abstand von zwei Metern keine Veränderungen der Luftströmungen mehr sichtbar und auch nicht messbar sind. Bei den meisten Messungen waren auch schon in geringerem Abstand keine Veränderungen mehr messbar, aber aus Sicherheitsgründen haben wir dann zwei Meter als Mindestabstand in unserer Risikoeinschätzung angegeben.

Untersuchungen zur Luftbewegung mittels Visualisierung durch Lasertechnik und speziellen digitalen Kameras beim Musizieren mit Blasinstrumenten, die Prof. Dr. Christian Kähler und Dr. Rainer Hain von der Universität der Bundeswehr München durchführten, ergaben für Holz- und Blechblasinstrumente unterschiedliche Strömungsbewegungen. Konnten Sie in Ihren Untersuchungen ähnliche Beobachtungen machen?

Ja, die Instrumente unterschieden sich auch in unseren Untersuchungen in ähnlicher Weise. Wir stimmen mit den Ergebnissen der Arbeitsgruppe des Kollegen Kähler, mit dem wir in engem Austausch stehen, im Wesentlichen überein: Trotz Unterschieden im Nahfeld konnten in einer Entfernung von 1,5 – 2 m bei keinem Blasinstrument und bei keinem Gesangsstil zusätzliche Luftbewegungen festgestellt werden. Ähnliche Untersuchungen wurden mittlerweile auch von der Arbeitsgruppe um Prof. Völker von der Bauhausuniversität in Weimar durchgeführt, die ebenfalls die bekannten Messergebnisse bestätigten konnten. Wir haben hier also in der Kürze der Zeit in den letzten Wochen schon eine recht robuste und breite Datenlage. Wir sind gerade dabei, die Publikation unserer detaillierten Ergebnisse, die jedes einzelne Blasinstrument gesondert betrachtet, vorzubereiten, aber das braucht bis zur Veröffentlichung noch Zeit.

Empfehlungen und Maßnahmen

Mit der schrittweisen Lockerung des sog. Lockdown seit dem 6. Mai 2020 – die auch je nach Bundesland z. T. sehr unterschiedlich ausfällt – werden die Fragen aus dem Bereich der professionellen Musik und der Laienmusik immer drängender, wie und wann musikalische Aktivitäten weiter aufgenommen werden können.
Es ist problematisch, dass bisherige Empfehlungen zu möglichst effektiver Reduktion des Infektionsrisikos der Musiker*innen durch COVID-19 v. a. intuitiv und unzureichend wissenschaftlichen fundiert sind. So existieren Empfehlungen zum Mindestabstand zwischen Bläsern von 3 bis zu 12 Metern.
In diesem Zusammenhang sehen Sie in Ihrem aktuellen Update zur Risikoeinschätzung einer Coronavirus-Infektion im Bereich Musik unter wissenschaftlichen Kriterien die z. Zt. erforderlichen Maßnahmen im Wesentlichen in drei Bereichen: a) In-coming-Kontrolle, b) Parameter Luft/Raum/Dauer, c) Individuelle Schutzmaßnahmen.
Was beinhaltet die aktuelle Risikoeinschätzung und welche Kernaussagen leiten Sie bzgl. der genannten drei Kategorien jeweils ab?

In allen drei Bereichen kann durch geeignete Maßnahmen das Infektionsrisiko qualitativ vermindert werden. Eine Addition mehrerer Maßnahmen führt nach unserer Überzeugung auch zu einer größeren Reduktion des Gesamtrisikos, auch wenn dieses nicht genau zu quantifizieren ist. Um nur einen Parameter herauszugreifen: Wir haben ja das Tragen von Mund-Nasen-Schutz und hier speziell die Verwendung von chirurgischen Masken empfohlen, auch beim Singen. Seit unserem 2. Update vom 19. Mai 2020 sind mehrere Publikationen zu diesem Thema erschienen, einschließlich einer breitangelegten Metaanalyse, welche die Effektivität der Verwendung von Masken eindrucksvoll bestätigen. Wir haben diesem aus unserer Sicht wichtigen Schutzfaktor deswegen in unserem 3. Update vom 1. Juli. 2020 breiteren Raum gegeben. Auch die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie (DGP) hat Ende Mai 2020 eine Stellungnahme zum Thema Maskentragen veröffentlicht, die inhaltlich im Wesentlichen unsere Empfehlung zur Verwendung der Masken stützt.

Sie empfehlen als Grundlage für das z. Zt. optimale Risikomanagement bezogen auf ein spezifisches Musizier-Setting ein individuelles Risikomanagement zu entwickeln. Existieren schon flexibel an die jeweiligen Musiker*innen und Musiziersituationen angepasste Konzepte eines Risikomanagements?

Ja, sowohl die durch unsere als auch andere Arbeitsgruppen entwickelten Einschätzungen berücksichtigen unterschiedliche Musizier-Settings wie Einzel- oder Gruppenunterricht sowie die Unterschiede der verschiedenen Instrumentenfamilien und des Gesangs. Aktuell erscheinen auch von immer mehr Verbänden der Laienmusik Hygienekonzepte, die sich an die wissenschaftlichen Erkenntnisse der genannten Arbeitsgruppen in Berlin, München und Freiburg anlehnen.

Bei z. Zt. unvollständigen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Übertragung von SARS-CoV-2 beim Musizieren plädieren Sie dafür, das Gesamtrisiko einer Ansteckung von Musiker*innen nach dem ALARP-Prinzip (As Low As Reasonably Practicable) durch die Kombination von Risiko-mildernden Maßnahmen zu reduzieren.
Welche Maßnahmen sind in diesem Zusammenhang konkret gemeint?

Hier geht es im Wesentlichen darum festzuhalten, dass trotz der von uns und anderen vorgeschlagenen Maßnahmen ein Restrisiko bleibt. Aktuell wissen wir vieles zur Übertragung durch den SARS-CoV-2 noch nicht, sodass Risikomanagement auch im Bereich des Musizierens derzeit eine Gleichung mit vielen Unbekannten bedeutet. Dies lässt Raum dafür, dass unterschiedliche Zielperspektiven (Erkrankungsrate vs. Erhalt der Musikkultur) und persönliche Einstellungen (risikofreudig oder risikoavers) zu unterschiedlichen Empfehlungen führen können. Individuell muss jedem und jeder das Recht eingeräumt werden zu entscheiden, welches Risiko er oder sie bereit ist zu tragen.

Auch in anderen akademischen Instituten (z. B. Charité, Berlin und Musikhochschule in Wien) finden wissenschaftliche Untersuchungen zur Risikoeinschätzung einer Coronavirus-Infektion im Bereich Musik satt. Ergeben sich aus Ihrer Sicht daraus weitere Erkenntnisse?

Darauf hoffen wir sehr! Es sind noch so viele „weiße“ Flecken auf der Landkarte des Wissens über SARS-CoV-2 und COVID-19 vorhanden, dass es dringend notwendig ist, dass möglichst viele Arbeitsgruppen an diesem Themenkomplex forschen. Auch wir haben mehrere Untersuchungen geplant, die jedoch alle noch im Entwurfsstadium oder Stadium der ersten Messreihen sind. Gute Forschung geht leider nicht so schnell, wie sich das Nichtforscher – und auch manche Musiker*innen und Medienvertreter – wünschen. Es ist in den letzten Wochen hier schon erfreulich viel neue Erkenntnis gewonnen worden – wir bleiben auf jeden Fall hochaktiv am Ball.

Die Fragen stellte Prof. Dr. Bernd Schönhofer, Hannover.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
21. August 2020

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