Z Sex Forsch 2019; 32(03): 176
DOI: 10.1055/a-0977-8892
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Hermaphroditen. Medizinische, juristische und theologische Texte aus dem 18. Jahrhundert

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Publication Date:
05 September 2019 (online)

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Im Mittelpunkt der von Maximilian Schochow und Florian Steger herausgegebenen Edition stehen historische Originaltexte zu dem „Hermaphroditen“ M. W., dessen „wahres“ Geschlecht innerhalb eines Scheidungsprozesses ermittelt werden sollte, und Sempronia, einem der Sodomie verdächtigten „weiblichen“ Hermaphroditen.

In dem Fall von M. W. drehen sich die Auseinandersetzungen von den Ärzten Johann Krus und Carl Friedrich Luther sowie dem Theologen Christian Gottlieb Koch primär um die Frage, ob Hermaphroditen grundsätzlich in der Lage sind, die Ehe zu schließen. Die Autoren nehmen in ihren Ausführungen Bezug auf Originaltexte anderer Abhandlungen und diskutieren die Perspektiven vor dem Hintergrund ihrer fachlichen Herkunft. Hauptargumente bei der Frage der Eheschließung betreffen Reproduktionsfähigkeit und Ehevollzug, also die Fähigkeit, den Koitus durchführen zu können. Nach Ansicht von Krus würde dies für M. W. bedeuten, dass ihm aufgrund der festgestellten „Impotenz“ (gemeint ist Infertilität) die Fähigkeit zur Eheschließung aberkannt wird. Krus zieht, wie von seinem Kollegen Luther kritisiert, zum Feststellen der Fruchtbarkeit primär das Erscheinungsbild der äußeren Genitale heran. Luther hingegen weist darauf hin, dass die inneren Organe zur Fruchtbarkeitsdiagnostik eine größere Rolle spielen. Die Herausgeber erklären, dass sich in dieser Auseinandersetzung die Kontroverse um die Bedeutung der inneren und der äußeren Genitalien im 16. und 17. Jahrhundert widerspiegelt. Darüber hinaus werden in den Darstellungen auch die Rolle der Ehe, die (nicht) nur zum Zwecke der Vermehrung der Art diene, sowie die Bedeutung von Sexualität diskutiert. Letztere wird auch vom Theologen Koch aufgegriffen, der (besonders die weibliche) Lust als Ursünde zu verstehen schien.

Im Fall Sempronia haben die Herausgeber Texte von Friedrich Christian Cregut, Arzt und Professor für Arznei und Naturwissenschaften, sowie Jann Heinrich Wolfart, Professor für Recht und der philosophischen Moral, zusammengetragen. Die 52-jährige Sempronia wird verdächtigt, mit einer 15-Jährigen intim geworden zu sein. Auch beim Lesen dieser Auseinandersetzung kommt fast unweigerlich das Gefühl auf, Teil eines kriminalistischen Falles, Detektiv auf dem Weg der Wahrheitsfindung zu sein. Treffend benennen die Herausgeber die Vermischung der Grenzen der fachlichen Disziplinen und heben hervor, dass es in den Texten nicht zuletzt immer auch um Deutungshoheit geht und dass mit Berichten über Hermaphroditen vielmehr über Männer und Frauen, Ehe, Sexualität und über den Kenntnisstand der geschlechtlichen Anatomie geschrieben wird. Die Herausgeber resümieren: „Diese teilweise zeitgebundenen Fragen finden ihren Widerhall in der gegenwärtigen Diskussion – beispielsweise um die Situation von intersexuellen Menschen“ (S. 20).

Nach einer spannenden, etwa zwanzigseitigen Einleitung folgen die Texte selbst. Da ich als klinische Psychologin und Psychotherapeutin mit langjähriger Erfahrung im Bereich Varianten der Geschlechtsentwicklung / Intersex, jedoch ohne fundierte historische Kenntnisse, nie mein Latinum machte, blättere ich zunächst an den lateinischen Originaltexten vorbei. Es folgt die deutsche Übersetzung der Dissertation Luthers, die zur Hälfte über die Anatomie des Herzbeutels berichtet. Krus’ Reaktion ist für mich eine allzu fachfremde Lektüre und es gelingt mir nicht, dem mit Schrägstrichen, lateinischen Begriffen und altdeutscher Schreibweise durchtränkten Text zu folgen. Luthers Antwort bereitet mir die gleichen Schwierigkeiten und spätestens hier beginne ich zu merken, dass ich nicht die geeignete Leserin für diese Lektüre bin. Auch der im Anhang beigefügte sechzigseitige Kommentar, in dem die Herausgeber alle in den Originaltexten erwähnten Personen sowie den sogenannten Zwitterparagrafen aus dem Jahre 1794 aufgreifen, rettet mich nicht. Ich sehne mich nach einer Verlängerung der Einleitung, wünsche mir eine historische Einordnung, Wissen über den Bedeutungshorizont dieser Abhandlungen und eine Einschätzung, welche Bewertung hinter den meist deskriptiven Beschreibungen stehen könnte. Allein, mir fehlt die Vorbildung, um einer solchen Einordnung selbst befähigt zu sein. Obwohl, wie von den Herausgebern beschrieben, die beiden Hauptcharaktere von den Verfassern „in den editierten Originaltexten [nicht] pathologisiert oder gesellschaftlich exkludiert“ werden (S. 20), ist daraus nicht unbedingt abzuleiten, dass dies die gesellschaftliche Situation widerspiegelt. Auch würde ich gerne diskutieren, inwieweit der medizinische Fortschritt und die reine Machbarkeit von chirurgischen Veränderungen Blickwinkel beeinflussen und inwieweit die 2012 veröffentliche „Stellungnahme Intersexualität“ des Deutschen Ethikrates denn tatsächlich „anachronistisch“ (S. 7) ist. Ich bin zwar durch die Einleitung höchst angeregt, es bleibt jedoch leider dabei.

Elena Bennecke (Berlin)