Diabetes aktuell 2020; 18(01): 1
DOI: 10.1055/a-0976-7146
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der mündige Patient

Antje Bergmann
1   Dresden
,
Peter E.H. Schwarz
2   Dresden
› Author Affiliations
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Publication Date:
18 March 2020 (online)

Was denken Sie, wenn Sie an den mündigen Patienten denken? Jeder von uns hat wahrscheinlich reflektorisch ein Bild im Kopf – der eine einen Patienten, der von ganz allein läuft und auf den man stolz sein kann. Der andere einen problematischen Patienten, der nächste einen Patienten, der viele Schwierigkeiten bereitet und viele Fragen stellt und der nächste, der wieder ein ganz anderes Stigma aufweist.

Der Arzt als „Gott in Weiß“ ist fantastisch und wirksam, aber ist das genaue Gegenteil von Selbstmanagement des Patienten. Ich denke, dass in vielen Bereichen das Autoritätsgefälle zum Arzt sehr hilfreich sein kann. Mit der starken Zunahme von chronischen Erkrankungen aber, die eigentlich nur mit einer Lebensstiländerung des Patienten in den Griff zu kriegen sind, wandelt sich dieses Bild.

Je chronischer eine lebensstilbedingte Erkrankung ist, desto mehr Verantwortung müssen wir auch an den Patienten abgeben, desto mündiger sollte unser Patient letztendlich sein. Nun stellt sich die Frage: Ist das überhaupt ein Problem? Mancher Kollege ist noch immer der Meinung, dass Patienten nicht in der Lage seien, mit uns auf gleichem Niveau zu diskutieren. Andere halten die Patienten für „noch nicht soweit“, um mündig zu sein. Ich denke, beide Sichtweisen sind nicht hilfreich. Meiner Meinung nach ist jeder Patient – wie jeder von uns – per se mündig. Nur wir Ärzte lassen das häufig nicht zu, indem wir uns hinter Fremdwörtern und strikten Anweisungen verstecken.

Die Entwicklung der Digitalisierung hat meines Erachtens dahingehend einen segensreichen Effekt. Patienten fangen an, im Hinblick auf lebensstilbedingte Erkrankungen ihren Alltag selbst in die Hand zu nehmen. Eigentlich sollte es uns etwas beschämen, dass wir nicht in der Lage waren, unsere Patienten so zu motivieren, wie ein Teil der Patienten das heute mithilfe der Digitalisierung allein schafft. Dabei könnte es so einfach sein.

Verhaltenstherapeutische Techniken wie „motivational interviewing“ oder „reflective listening“ wie auch viele weitere, können sehr gut helfen, das Gespräch mit dem Patienten zu strukturieren, dem Patienten mehr Initiative zu übergeben, damit auch mehr Verantwortung, die sich in vielen Fällen auch in mehr Motivation des Patienten zu einer Lebensstiländerung oder auch Therapieadhärenz äußert.

Es ist an der Zeit, dass wir nicht die Aufgabe an den mündigen Patienten abschieben, sondern dass wir selbst als Ärzte mündig werden und uns als echter Partner in einer anderen Kommunikations- und Motivationsebene mit dem Patienten erweisen. Es lohnt sich zu lernen, wie man mit dem Patienten motivierend reden kann oder wie der mündige Patient eine klare Bereicherung sein kann – denn in meinen Augen ist der wirkliche mündige Patient nicht der informierte Patient, sondern der motivierte Patient.