Gesundheitswesen 2019; 81(05): 444-447
DOI: 10.1055/a-0915-1215
Leserbrief
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kritik an Population Attributable Fraction bei genauerem Hinsehen nicht gerechtfertigt

D Plaß
1   Umweltbundesamt, Abteilung Umwelthygiene, Berlin
,
M Tobollik
1   Umweltbundesamt, Abteilung Umwelthygiene, Berlin
,
B Devleesschauwer
2   Sciensano, Abteilung für Epidemiologie und Public Health, (Belgisches Institut für Gesundheit), Brüssel, Belgien
,
E Grill
3   Institut für Medizinische Informationsverarbeitung Biometrie und Epidemiologie (IBE), Ludwig-Maximilians Universität München, München
,
B Hoffmann
4   Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Medizinische Fakultät, Universität Düsseldorf, Düsseldorf
,
J Hurraß
1   Umweltbundesamt, Abteilung Umwelthygiene, Berlin
,
N Künzli
5   Schweizerisches Tropen- und Public Health-Institut, Basel, Schweiz
,
A Peters
6   Institut für Epidemiologie, Helmholtz Zentrum München und Institut für Medizinische Informationsverarbeitung Biometrie und Epidemiologie (IBE), Ludwig-Maximilians Universität München, München
,
D Rothenbacher
7   Institut für Epidemiologie und Medizinische Biometrie, Universität Ulm, Ulm
,
A Schneider
8   Institut für Epidemiologie, Helmholtz Zentrum München, München
,
H E Wichmann
9   ehemals Institut für Epidemiologie, Helmholtz Zentrum München, München und Lehrstuhl für Epidemiologie, LMU München
,
D Wintermeyer
1   Umweltbundesamt, Abteilung Umwelthygiene, Berlin
,
J Wolf
10   Unabhängige Beraterin (Derzeit Weltgesundheitsorganisation, Genf, Schweiz)
,
H Zeeb
11   Abteilung Prävention und Evaluation, Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS, Bremen
,
W Straff
1   Umweltbundesamt, Abteilung Umwelthygiene, Berlin
› Author Affiliations
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Publication Date:
05 June 2019 (online)

Warum ist die „Anzahl vorzeitiger Todesfälle durch Umweltexpositionen“ nicht angemessen quantifizierbar?

Morfeld und Erren äußern in ihrem Artikel „Warum ist die ‚Anzahl vorzeitiger Todesfälle durch Umweltexpositionen‘ nicht angemessen quantifizierbar?“ (Gesundheitswesen 2019; 81 (02): 144–149. DOI: 10.1055/a-0832–2038) Kritik an methodischen Werkzeugen, die in den Forschungsfeldern Epidemiologie und Public Health regelmäßig angewendet werden, und hier insbesondere an der Population Attributable Fraction (PAF) [1]. Die anhand von vereinfachten Beispielen dargestellte Anwendung der PAF in ihrem Beitrag entspricht jedoch nicht ihrem üblichen Einsatz. Wir zeigen in unserem Beitrag, warum die PAF eine relevante Bedeutung für Public Health-Fragestellungen hat und an welchen Stellen die Beispiele im Beitrag von Morfeld und Erren nicht der sachgerechten Anwendung der PAF-Formel entsprechen.

Das grundlegende Konzept der Formel zur Berechnung der PAF wurde in Artikeln von Levin (1953 [2]) sowie Miettinen (1974 [3]) eingeführt. Die Formel wurde seit der ersten Global Burden of Disease-Studie vermehrt zur Berechnung der Krankheitslast, die auf einzelne Risikofaktoren zurückzuführen ist, eingesetzt [4] [3] [4] [7]. Allgemein wird die PAF verwendet, um aus Erkenntnissen epidemiologischer Studien Rückschlüsse auf die gesundheitliche Bedeutung von Risikofaktoren in der Gesamtbevölkerung zu ziehen und somit die Ergebnisse solcher Studien für politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger verständlich und für Public Health-Fragestellungen besser nutzbar zu machen [8]. Die Grundlagen und die Herleitung der Formel sowie die kritische Auseinandersetzung mit den Potenzialen und Limitationen der PAF sind gut dokumentiert (z. B. [4] [9]). Wie für alle Methoden in der Epidemiologie, aber auch für die anderer Forschungsfelder gilt, dass deren Voraussetzungen sowie Limitationen sowohl bei der Anwendung als auch bei der Interpretation der Ergebnisse beachtet werden müssen [10] [9] [12]. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, stellt die PAF ein Instrument dar, das bei der Bewertung der Bedeutung von Risikofaktoren für die Gesundheit von Bevölkerungen und Bevölkerungsgruppen sehr hilfreich ist.

Morfeld und Erren stellen ihren Ausführungen zunächst ein Gedankenexperiment zur Notenverteilung in einer Schulklasse voran. Hier wird eine Analogie zwischen den „Betroffenen“ (Schulkinder) und den Todesfällen in der Epidemiologie hergestellt. Entsprechend wären die Noten der Schulkinder mit Informationen zum Alter, Geschlecht oder Todesursachen gleichzusetzen.

Die Schlussfolgerung der Autoren aus dem Gedankenexperiment ist, dass anhand ihres Beispiels bewiesen sei, dass es bei der präsentierten Informationslage keine gültige Formel für die Berechnung der PAF gäbe, die eine mathematisch korrekte Lösung des Problems darstelle. Die Informationslage unterscheidet sich jedoch deutlich von der tatsächlich vorliegenden Situation beim sachgerechten Einsatz der PAF-Formel.

Das Beispiel der Schulklasse beruht auf einer unbekannten Verteilung der Noten. Im Gegensatz dazu ist jedoch die Anzahl der Todesfälle in der Bevölkerung bekannt (Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamts [13]). Ebenso werden im Gedankenexperiment keinerlei Informationen über Risikofaktoren (z. B. die Lernzeit) genannt, während bei PAF-Berechnungen die Beziehung zwischen Risikofaktoren und Todesfällen bekannt ist. Das von den Autoren gewählte Beispiel verzerrt somit bereits einleitend die Grundlagen, die im üblichen Fall bei der Anwendung der PAF in Bezug auf Todesfälle vorliegen.

Im Folgenden zeigen wir auf, welchen Anwendungsbereich die PAF hat, geben Beispiele dazu, wie die (umweltbedingte) Krankheitslast (Environmental Burden of Disease; EBD) berechnet wird, und erklären, warum die von Morfeld und Erren gewählten Beispiele in diesem Zusammenhang nicht zielführend sind.

Morfeld und Erren führen zunächst ein weiteres Beispiel konkret bezogen auf eine Gruppe von 6 Personen an, für die eine PAF berechnet werden soll. Hiermit wollen sie zeigen, warum „vorzeitige oder attributable Todesfälle“ nicht aus epidemiologischen Studien abgeleitet werden können. Die PAF ist jedoch keine Maßzahl, die auf eine Einzelstudie (Primärdaten epidemiologischer Studien) angewendet werden sollte. Mit der PAF-Formel werden Informationen aus mehreren Quellen (z. B. das Relative Risiko, die Prävalenz der Exposition in der Bevölkerung, die Zahl der Sterbefälle wegen einer bestimmten Erkrankung in der Bevölkerung) miteinander verknüpft, um dadurch eine Gesamtsicht auf Bevölkerungsebene zu vermitteln. Hierbei geht es v. a. um die Nutzbarmachung von Ergebnissen aus epidemiologischen Studien für Public Health-Fragestellungen.

Die Anwendung der PAF-Formel in diesem Zusammenhang ist weltweit anerkannt und wird nicht nur für umweltbezogene Risikofaktoren, sondern auch für die Berechnung der Krankheitslast anderer Risikofaktoren wie z. B. Rauchen, Alkoholabusus oder Übergewicht angewandt. Die Ergebnisse solcher Studien wurden in einschlägigen Zeitschriften mit „peer-review“ veröffentlicht [14] [13] [14] [17]. Es bedarf bei jeder Anwendung der PAF valider zusätzlicher Informationen. Eine Berechnung innerhalb einer Gruppe von 6 Personen ist also sinnlos, da wichtige externe Informationen zur Berechnung der PAF fehlen (ähnlich wie im Gedankenexperiment in der Schulklasse).

In dem oben genannten Beispiel zeigen Morfeld und Erren des Weiteren eine Berechnung verlorener Lebensjahre, indem sie das Sterbealter von insgesamt 6 exponierten und nicht-exponierten Personen vergleichen. Nach der im Artikel dargestellten Vorgehensweise berechnen sie die „Years of Life Lost due to premature mortality“ (YLLs) als Differenz zwischen dem Alter der verstorbenen Personen. Stirbt also eine exponierte Person mit 79 Jahren und eine nicht-exponierte Person mit 80 Jahren, so ergäbe sich dadurch ein verlorenes Lebensjahr, das der Exposition zugeschrieben wird. Die Berechnung der verlorenen Lebensjahre, wie sie üblicherweise in Studien zur Krankheitslast stattfindet, basiert jedoch zumeist auf Informationen aus der Todesursachenstatistik und Daten zur Restlebenserwartung und nicht, wie in dem Beispiel dargestellt, auf dem Vergleich von Individualdaten aus einzelnen epidemiologischen Studien. Wie auch in anderen EBD-Studien wird die PAF-Formel in dem von Morfeld und Erren angesprochenen Beispiel, der „UBA-Studie“ [18] nicht auf einzelne umweltepidemiologische Studien angewendet, sondern so wie in den folgenden Abschnitten beschrieben.

Was versteht man nun genau unter den Begriffen „vorzeitige Todesfälle“ und „verlorene Lebensjahre“ im Konzept der Krankheitslast, und wie werden diese Maße berechnet? Ein häufiges Missverständnis in diesem Zusammenhang ist der Begriff „vorzeitiger Todesfall“. Wenn ein Mensch verstirbt, muss dies nicht zwingend als ein „vorzeitiger Todesfall“ bezeichnet werden, weil die Eigenschaft „vorzeitig“ immer die Definition eines normativen Ziels voraussetzt [19]. Das heißt z. B., dass ein statistisch erreichbares Alter festgelegt werden muss. Zeichnen wir ein Beispiel: Eine Frau in Deutschland verstirbt im Alter von 60 Jahren an einem Lungenkrebs. Dieser Todesfall geht gemeinsam mit Informationen u. a. zum Sterbealter und der Todesursache in die Todesursachenstatistik ein. Wir gehen davon aus, dass eine Frau, die (z. B. im Jahr 2014) im Alter von 60 Jahren verstirbt, statistisch gesehen noch etwa 25 Jahre hätte leben können [20]. Die zusätzliche Information zur Restlebenserwartung sagt uns, dass es sich hier um einen „vorzeitigen Todesfall“ handelt, da dieser vor Erreichen eines statistisch möglichen durchschnittlichen Alters eingetreten ist.

Diese verlorenen 25 Jahre werden als YLL bezeichnet, sind also die verlorenen Lebensjahre. Hier geht es zunächst noch nicht darum, ob diese Person bestimmten Risiken ausgesetzt war oder nicht. Es geht lediglich um den Todesfall und die verlorenen Lebensjahre. Dieser Berechnungsschritt erfolgt für alle Todesfälle ausgewählter Erkrankungen in der Bevölkerung. Durch Aufsummieren der YLL über alle Todesfälle infolge einer Erkrankung ergibt sich, dass man sich nun auf der Bevölkerungsebene bewegt, somit eine individuelle Zuschreibung nicht mehr möglich ist. Als Ergebnis erhält man somit die gesamte Krankheitslast einer Bevölkerung für die jeweils betrachtete Erkrankung als Summe der in Folge der Todesfälle verlorenen Lebensjahre.

Nimmt man nun einerseits das Relative Risiko als ein Maß für die Stärke des Zusammenhangs zwischen einem Risikofaktor und einer bestimmten Erkrankung und andererseits Informationen zur Häufigkeit und Verteilung des Risikofaktors in der Bevölkerung, für welche die PAF bestimmt werden soll, hinzu, kann der Anteil der Krankheits- oder Todesfälle bestimmt werden, der diesem Risikofaktor zuzuschreiben („attributable“) ist. Aus unserer Sicht ist es bei Verwendung der PAF grundsätzlich angemessen, von „attributablen Todesfällen“ zu sprechen, weil der Begriff „vorzeitige Todesfälle“, wie oben beschrieben, immer die Definition eines normativen Ziels voraussetzt und dies, wie in dem Beitrag von Morfeld und Erren geschehen, zu Missverständnissen führen kann.

Todesfälle und verlorene Lebensjahre werden also auf Basis von Sekundärdaten, die z. B. amtlichen Statistiken entnommen werden können, berechnet. Solche Daten liegen für Expositionen oft nicht vor. Daher stellt sich die Frage, wie die Exposition bei Schätzungen der Krankheitslast berücksichtigt wird.

Damit das Risiko der Belastung der Bevölkerung infolge einer Exposition z. B. gegenüber Stickstoffdioxid (NO2) in die Berechnung eingehen kann, werden Informationen zur flächendeckenden Belastung mit NO2 mit der Bevölkerungsdichte verknüpft. Mit diesem Schritt erhält man Informationen darüber, wie viele Personen jeweils unterschiedlich hohen Expositionen ausgesetzt und entsprechenden Expositionsklassen zuzuordnen sind. Durch die aus einer Vielzahl von Studien abgeleitete Expositions-Wirkungsfunktion, die den mathematischen Zusammenhang zwischen der Exposition mit dem Risikofaktor und dem Auftreten des jeweils interessierenden Gesundheitszustandes darstellt, kann jeder Konzentration ein entsprechendes Relatives Risiko zugeordnet werden. Das Relative Risiko und die Information zur Expositionsverteilung in der Bevölkerung gehen in die PAF-Formel ein, um einen prozentualen Wert – die PAF – zu ermitteln, der dann entsprechend in die weiteren Berechnungen einfließen kann. Die Verbindung zu den aus der Todesursachenstatistik gewonnenen Informationen über Todesfälle und den berechneten verlorenen Lebensjahren (YLL) erfolgt über die Multiplikation dieser (Sekundär-) Daten mit der PAF. Die PAF-Formel wird somit nicht auf die (Primär-) Daten von epidemiologischen Studien angewendet, aus denen das Relative Risiko abgeleitet wurde. Die von Morfeld und Erren dargestellte Berechnungsweise „Man multipliziert die Anzahl aller Todesfälle unter den höher Exponierten mit AF und erhält (vermeintlich) die Anzahl der „vorzeitigen Todesfälle“, auch „attributable Todesfälle“ genannt, d. h. die Anzahl der Todesfälle, die durch den Expositionsunterschied von H zu N verursacht wurden“ entspricht somit nicht dem korrekten Vorgehen bei der Analyse der Krankheitslast. Da die Todesfälle in der Todesursachenstatistik und die entsprechend daraus abgeleiteten verlorenen Lebensjahre stratifiziert nach dem Alter vorliegen, kann die PAF auch auf die Ergebnisse einzelner Altersklassen angewendet werden, was entsprechend eine Zuordnung der Krankheitslast zu den Altersstrata ermöglicht.

Ein entscheidender Kernaspekt der Methode ist, dass mit der PAF ausschließlich der attributable Anteil berechnet wird, der auf einen Risikofaktor zurückgeführt werden kann. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass alle EBD-Studien nicht die ätiologische, sondern die attributable Fraktion berechnen. Um diesen wichtigen Punkt zu illustrieren, nehmen wir an, dass in einer Bevölkerung von 75 Personen alle Personen eine chronische Lungenerkrankung innerhalb eines bestimmten Zeitraums neu entwickeln. Von diesen Personen hätten 25 (A) die Erkrankung auch ohne NO2 bekommen, 25 (B) hätten sie auch ohne NO2 bekommen, aber NO2 hat die Progression beschleunigt, und 25 (C) hätten sie ohne NO2 nicht bekommen. Der Anteil der exponierten Bevölkerung, die durch NO2 geschädigt wurde, ist also (B+C)/75 also (25+25)/75=2/3. Dies wäre dann die ätiologische Fraktion – eine Zahl, die das komplette Kausalgeschehen berücksichtigt und die nicht, wie Robins und Greenland zurecht darstellen, mit der PAF berechnet werden kann [21]. Der Anteil der exponierten Bevölkerung, der in Abwesenheit von NO2 nicht erkrankt wäre, ist C/75 also 25/75=1/3. Das ist die attributable Fraktion oder auch „excess fraction“ genannt, bestimmbar mit der PAF-Formel.

Das „attributable Risiko“, das auch in der Studie von Schneider et al. verwendet wurde, gibt somit nur den Anteil des Erkrankungsrisikos an, der durch das Entfernen der jeweiligen Exposition gänzlich vermieden werden kann [12]. Fälle, deren Verlauf durch die Exposition beschleunigt wurde, treten selbst bei kompletter Prävention der Exposition weiterhin auf, aber eben später. Somit kommt es in der Realität trotz Reduktion der Exposition weiterhin z. B. zu Todesfällen auf Grund von kardiovaskulären Erkrankungen. Der Anteil, der jedoch z. B. auf NO2 zurückgeführt werden kann, wird mit abnehmender Exposition sinken. Robins und Greenland zeigen in ihren Artikeln diesen Unterschied zwischen den sog. „excess cases“ (attributable cases) und „etiologic cases“ [22] [23]. Sie stellen zudem fest, dass für die Berechnung der „etiologic cases” die PAF nicht zum Einsatz kommen sollte, gleichwohl jedoch für die „excess cases“ genutzt werden kann [22] [24].

So mag die ätiologische Fraktion theoretisch in dem Beispiel von Morfeld und Erren maximal auch alle 338 000 Todesfälle aufgrund von Herzkreislauferkrankungen in Deutschland umfassen, diese wird jedoch nicht über die PAF-Formel in der EBD-Studie von Schneider et al. berechnet. Die Annahme von Morfeld und Erren „Das Konzept der [Disability-Adjusted Life Years] DALY unterstellt, dass durch abgesenkte Umweltbelastungen alle Krankheiten und Behinderungen bei den Personen eliminiert werden, die auf die Exposition reagieren. Es sollen also nach Expositionsverringerung keine Krankenhausaufenthalte oder Bettlägerigkeit und auch z. B. keine Chemotherapie bei diesen Personen auftreten.“ entspricht somit nicht der korrekten Interpretation der Ergebnisse.

In einem weiteren Abschnitt des Artikels beschreiben Morfeld und Erren, dass DALY als Maß zur Darstellung der Auswirkung von Expositionsänderungen nicht geeignet seien. Sie schreiben in diesem Bezug: „DALY sind wie folgt definiert (Punkte 5 und 6 auf S. 160 in [1]): DALY=YLL+YLD, wobei YLL die verlorenen Lebensjahre durch höhere Exposition bezeichnet und YLD die bei höherer Exposition auftretenden „Years Lived with Disability“=„mit Krankheit/Behinderung gelebte Lebensjahre“. Diese im höher belasteten Kollektiv auftretenden YLD werden anschließend mit AF multipliziert, um sie (vermeintlich) auf den Umfang an „disability“ zu reduzieren, der durch die Exposition verursacht ist.“

YLL, YLD oder das Summenmaß DALY haben in ihrer Eigenschaft vor Anwendung der PAF keine Assoziation mit einer Exposition. Sie werden nicht, wie von den Autoren beschrieben, ausschließlich für Exponierte berechnet, sondern wie bereits am Beispiel der YLL aufgezeigt, zunächst unabhängig von der Exposition für die jeweiligen Erkrankungen in der gesamten Bevölkerung. Erst im Anschluss daran erfolgt über die PAF die Kombination der absoluten Krankheitslast mit der Exposition.

Wie jede wissenschaftliche Methode hat auch die Ermittlung der PAF gewisse Voraussetzungen sowie Limitationen und ist auf einen bestimmten Anwendungsbereich beschränkt. Das zeigt auch der von Morfeld und Erren zitierte Beitrag von Kowall und Stang [12]. Die Autoren argumentieren jedoch nicht gegen die Anwendung der PAF. Sie zeigen auf, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit die Anwendung und Interpretation der PAF (nämlich unter welchen Bedingungen die PAF wirklich die vermeidbare Fraktion ist) adäquat erfolgt.

Ein weiterer entscheidender Aspekt, der über die Methodenkritik hinaus geht, ist, dass es bei den Arbeiten, auf die sich Morfeld und Erren zur Unterstützung ihrer Argumentation beziehen [21], um gerichtliche Entscheidungen über Entschädigungszahlungen („compensation decisions“) im Rahmen des Berufskrankheitsrechts geht. Es geht also um rechtliche Entscheidungen darüber, ob ein bestimmter Schadstoff als alleiniger Faktor kausal für die Entstehung einer Erkrankung eines Betroffenen verantwortlich gemacht werden kann, um daraus Schadensersatzansprüche z. B. im Hinblick auf besondere Arbeitsbelastungen abzuleiten. Es geht also um Entscheidungen über Einzelfälle, bei denen eine Bevölkerungsperspektive keine wesentliche Rolle spielt. Dies ist aber z. B. bei der PAF-Berechnung zur NO2 assoziierten Krankheitslast der Fall.

Die von Morfeld und Erren in ihrem Artikel geäußerte Kritik an den Konzepten der Krankheitslastberechnung ist nicht neu und hat ihren Grund u. a. auch in einer nicht fachgemäßen Anwendung spezieller epidemiologischer Methoden und in einer nicht adäquaten Interpretation der entsprechenden Ergebnisse. Wir haben ähnlich ausgerichtete – und kritisch kommentierte – Beiträge der Autoren in anderen Zeitschriften zur Kenntnis genommen [25] [26]. Zusammenfassend hat die von Morfeld und Erren vorgetragene Kritik aus unserer Sicht wenig Gehalt und geht an der konkreten Sache vorbei: es geht bei der Anwendung der PAF nicht darum, einzelne Fälle zu identifizieren, die durch eine Exposition ausgelöst wurden, sondern darum, Maßzahlen zu schätzen, mit denen man die Bedeutung unterschiedlicher Risikofaktoren in der Bevölkerung einander größenordnungsmäßig gegenüberstellen kann. In diesem Sinne sind PAF-Berechnungen auch weiterhin ein wichtiges Werkzeug für die angewandte Public Health Forschung und tragen zur Faktenbasis von politischen Entscheidungen bei.

 
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