manuelletherapie 2019; 23(02): 54-56
DOI: 10.1055/a-0882-6096
Forschung Kompakt
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Red Flags für lumbale Rückenschmerzen sind nicht in allen Fällen rot – Prospektive Auswertung des klinischen Nutzens von häufig genutzten Screening-Fragen für lumbale Rückenschmerzen

Red Flags for Low Back Pain Are not always really Red – A Prospective Evaluation of the Clinical Utility of Commonly Used Screening Questions for Low Back Pain
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Publication Date:
17 May 2019 (online)

Zusammenfassung

Fragestellung

Das Ziel der Studie bestand darin, den Nutzen von speziellen Red-Flag-Fragen beim Erkennen einer entsprechenden Diagnose zu untersuchen. Die Autoren stellten die Hypothese auf, dass das Verwenden von Red-Flag-Fragen sowohl die Erkennung, die Unterstützung bei der Aufarbeitung als auch die Behandlung von Infektionen, Malignität, Frakturen und einem Cauda-equina-Syndrom verbessert.


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Physiotherapeutischer Hintergrund

Durch ernsthafte Ursachen verursachte lumbale Rückenschmerzen treten in 1–4 % der Fälle auf und werden klassischerweise in 4 Ursachen eingeteilt: Frakturen, Malignität, Infektionen und Cauda-equina-Syndrom. Da diese selten vorkommen, ist das schnelle und richtige Erkennen dieser Diagnosen essenziell für eine Überweisung zum entsprechenden Spezialisten für das Management. Um ernsthafte Pathologien zu erkennen, wurden Red-Flag-Screening-Fragen entwickelt. Sie werden in vielen Guidelines für die Behandlung bei lumbalen Rückenschmerzen empfohlen.


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Methode

Die retrospektive Studie umfasste 9940 Teilnehmer, die als Hauptproblem unter lumbalen Rückenschmerzen mit oder ohne Beinschmerzen litten. Die Patienten füllten während ihres ersten Besuchs in der Klinik der Emory University in Atlanta zwischen Juli 2005 und Februar 2016 einen Fragebogen mit Red-Flag-Fragen aus, bevor sie mit einem Wirbelsäulenchirurgen Kontakt hatten. Die diagnostischen Informationen wurden direkt aus den ärztlichen Aufzeichnungen gewonnen und durch Berichte zu – sofern durchgeführt – bildgebenden Verfahren ergänzt. Die Diagnosen wurden zusätzlich durch Überprüfung der ICD-Kategorien für jeden Patienten bestätigt. Die in dieser Studie verwendeten und von klinischen Guidelines empfohlenen Fragen und konnten mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden:

  • Fraktur:

    • Trauma?

    • Alter über 50 Jahre?

    • Alter über 70 Jahre?

  • Malignität:

    • Krebs?

    • Unerklärbarer Gewichtsverlust?

    • Nächtliches Aufwachen aufgrund von Schmerzen?

    • Alter über 50 Jahre?

    • Alter über 70 Jahre?

  • Infektion:

    • Fieber, Schüttelfrost oder Schwitzen?

    • Kürzlich aufgetretene Infektion?

    • Nächtliches Aufwachen aufgrund von Schmerzen?

    • Konstantes nächtliches Schwitzen?

  • Cauda-equina-Syndrom:

    • Kürzlich aufgetretener Kontrollverlust über die Blase?

    • Kürzlich aufgetretener Kontrollverlust über den Darm (außer Durchfall)?


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Outcome

Outcome-Parameter waren vorhandene Frakturen, Malignität, Infektionen oder ein Cauda-equina-Syndrom. Hatte ein Patient mehr als eine dieser Diagnosen, wurde jede separat ausgewertet.


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Ergebnisse

  • Durchschnittsalter: 56,8 ± 15 Jahre, 49 % weiblich.

  • 92,6 % der Patienten zeigten zum Aufnahmezeitpunkt mindestens ein Red-Flag-Symptom.

  • Das am häufigsten aufgetretene Symptom war „Nächtliches Aufwachen aufgrund von Schmerzen“ (58,1 %).

  • 828 Patienten hatten eine Red-Flag-Diagnose (8,3 %). Frakturen (554 Patienten) waren die mit Abstand häufigste Diagnose (5,6 %), gefolgt von 159 Tumoren (1,6 %) und 120 Infektionen (1,2 %). Mit 36 Patienten war das Cauda-equina-Syndrom (0,4 %) die am seltensten aufgetretene Diagnose.

Frakturen

Sofern ein Alter über 50 bzw. 70 Jahre und ein kürzliches Trauma in der Geschichte des Patienten vorlagen, war dies mit einer signifikant erhöhten Wahrscheinlichkeit für eine Wirbelkörperfraktur verbunden. Die Abwesenheit der 3 Kriterien war mit einer signifikant verringerten Wahrscheinlichkeit für eine Wirbelkörperfraktur assoziiert.


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Malignität

Bei unerklärbarem Gewichtsverlust und einer persönlichen Vorgeschichte von Krebs erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit einer malignen Erkrankung. Die Abwesenheit von Gewichtsverlust war jedoch nicht mit einer signifikant verringerten Wahrscheinlichkeit für spinale Krebserkrankungen verbunden. Ergänzend hatte das Alter über 50 bzw. 70 Jahren und Nachtschmerzen keinen signifikanten Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit für das Vorhanden-/Nichtvorhandensein von spinaler Malignität. 64 % der Patienten mit spinaler Malignität zeigten keine assoziierten Red Flags.


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Infektion

Waren Fieber, Schüttelfrost oder Schwitzen und eine kürzlich aufgetretene Infektion vorhanden, erhöhte sich signifikant die Wahrscheinlichkeit für eine spinale Infektion. Die Abwesenheit von Fieber, Schüttelfrost oder Schwitzen war nicht mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit für eine Infektion assoziiert. Zusätzlich hatte Nachtschmerz keinen signifikanten Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit für das Vorhanden-/Nichtvorhandensein einer Infektion.


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Cauda-equina-Syndrom

Sofern ein kürzlich aufgetretener Kontrollverlust über Blase und Darm auftrat, stand dies mit einer signifikant erhöhten Wahrscheinlichkeit für ein Cauda-equina-Syndrom in Verbindung. Jedoch war die Abwesenheit der Symptome nicht mit einer signifikant geringeren Wahrscheinlichkeit für ein Cauda-equina-Syndrom verbunden.


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Schlussfolgerungen

Die Prävalenz von Red-Flag-Diagnosen war in dieser Studie mit 8,3 % höher als bei bisher publizierten Studien. Im Allgemeinen fehlen Nachweise für die Empfehlung von Fragen zum Erkennen von schweren zugrundeliegenden Pathologien und zur weiteren diagnostischen Abklärung. Die aktuelle Empfehlung, Red-Flag-Fragen als Screening-Tool zu verwenden, beruht auf früheren Leitlinien und unveröffentlichten Daten.

Ein Hauptmerkmal von Screening-Tests besteht darin, dass ein negativer Test sehr unwahrscheinlich falsch negativ sein wird und negative Testergebnisse die Wahrscheinlichkeit einer Diagnose vor dem Test signifikant verändern. Ein guter Screening-Test besitzt somit eine hohe Sensitivität und eine hohe negative Likelihood-Ratio. In der Studie erzielte keine einzige Red-Flag-Frage eine Sensitivität von über 75 %. Die meisten Fragen wiesen eine Sensitivität von deutlich unter 60 % auf. In ähnlicher Weise erreichte keine einzige Frage eine signifikant hohe negative Likelihood-Ratio.

Die Daten zeigen jedoch, dass bestimmte Kombinationen von Red-Flag-Fragen eine hohe Spezifität aufweisen und die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Diagnose signifikant erhöhen können. Dem Kliniker können sie also dabei helfen, eine ernsthafte Diagnose zu stellen.

Weder das Vorhandensein noch das Fehlen von Nachtschmerz beeinflusste die Wahrscheinlichkeit einer Red-Flag-Diagnose. Die Frage kann dem Kliniker zwar in der Beurteilung zu Schmerz und Lebensqualität nützlich sein, jedoch eignet sie nicht als Red-Flag-Screening-Frage.

Bezüglich der Verwendung von traditionellen Red-Flag-Fragen bei Patienten mit lumbalen Rückenschmerzen gibt es folgende 6 Empfehlungen:

  1. Rückenschmerzen sowie ein kürzlich vorangegangenes Trauma und

  • über 50 Jahre: 13,1 % Wahrscheinlichkeit für eine Fraktur.

  • über 70 Jahre: 20,5 % Wahrscheinlichkeit für eine Fraktur.

  1. Rückenschmerzen und

  • Krebs in der Vorgeschichte sollten zur Frage nach unbeabsichtigtem Gewichtsverlust führen: 10,6 % Wahrscheinlichkeit für einen Tumor.

  • Unbeabsichtigter Gewichtsverlust in der Vorgeschichte sollten zur Frage Krebs in der Vorgeschichte führen: 14,3 % Wahrscheinlichkeit für einen Tumor.

  1. Rückenschmerzen und eine kürzlich vorangegangene Infektion sollten zur Frage nach Fieber, Schüttelfrost oder Schwitzen führen: 13,8 % Wahrscheinlichkeit für eine Infektion.

  2. Rückenschmerzen und ein Kontrollverlust über Blase und Darm: 1,2 % Wahrscheinlichkeit für ein Cauda-equina-Syndrom.

  3. Nächtliches Aufwachen aufgrund von Schmerzen ist keine nützliche Frage für eine der 4 Diagnosen und sollte zu keinem bildgebendes Verfahren führen. 55 % aller Patienten mit lumbalem Rückenschmerz hatten Nachtschmerz und 60 % keine Red-Flag-Diagnose. Klassisch wird Nachtschmerz mit Malignität und Infektionen in Verbindung gebracht, aber dieses Symptom war zu 85 % falsch positiv für Krebs und mehr als 96 % falsch positiv für Infektionen, sofern Nachtschmerz das einzige Red-Flag-Symptom war.

Abgesehen von einem Alter über 50 Jahren und der Diagnose einer Wirbelsäulenfraktur hilft das Fehlen einer einzelnen Red Flag oder einer Kombination nicht, eine bestimmte Red-Flag-Diagnose auszuschließen.

Während eine positive Antwort auf eine Red-Flag-Frage auf das Vorhandensein einer Krankheit hinweisen kann, verringert eine Verneinung auf 1 oder 2 Fragen nicht signifikant die Wahrscheinlichkeit einer Red-Flag-Diagnose. Wenn Kliniker Red-Flag-Fragen als Screening-Tool verwenden, sollten sie demnach bei ihrer Interpretation kritisch sein. In Clinical Practice Guidelines sind weitere Verfeinerungen für das Screening nach schweren spinalen Pathologien angezeigt.


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  • Literatur

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