Nervenheilkunde 2019; 38(06): 424-426
DOI: 10.1055/a-0873-8882
Gesellschaftsnachrichten
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V.

Joachim Sproß
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Publication History

Publication Date:
12 June 2019 (online)

Mit der Krankheit ALS leben lernen

DGM-Handbuch ALS und Diagnosegruppe ALS

Die Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist nur schwer zu akzeptieren, denn die Krankheit stellt Betroffene und ihre Angehörigen vor große Herausforderungen. Rasch voranschreitend, lebensverkürzend belastet die Erkrankung die Seele. Mit dem jetzt neu erschienenen vollständig überarbeiteten Handbuch „ALS – Mit der Krankheit leben lernen“ gibt die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e. V. (DGM) Patienten hilfreiche Informationen zum Leben mit der Krankheit an die Hand. Es ermöglicht ihnen Lebensqualität und -perspektiven neu zu entwickeln.

Am Handbuch wirkten neben dem Fachberaterteam der DGM renommierte medizinische Experten auf dem Gebiet der ALS mit. Das verständlich geschriebene Fachbuch skizziert neben dem Thema „Was kommt auf mich zu“ umfassend Probleme des Alltags und mögliche Lösungen. Von medizinischer Versorgung und Therapie, über Selbstständigkeit und Mobilität, Kommunikation und Sprache, Ernährung und Schlucken, Atmung und Beatmung, Pflege und Versorgung bis zu Selbsthilfe und Unterstützung finden sich alltagstaugliche Empfehlungen. Das DGM-Handbuch ALS ist im Shop der DGM zu beziehen. https://www.dgm.org/publikationen

Selbsthilfe und Unterstützung organisiert und bietet ebenfalls die neue bundesweite Diagnosegruppe ALS der DGM. 2018 gegründet, setzt sich die Gruppe für nachhaltige Erleichterungen für Betroffene und ihre Angehörigen ein. Erfahrungen der DGM aus Gesprächskreisen und Beratung von ALS-Betroffenen werden mit der neuen Diagnosegruppe gebündelt und an Patienten und Angehörige, wie auch an alle Hilfesuchenden, weitergegeben.

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Titelbild DGM-Handbuch (Quelle: DGM)

Die Diagnosegruppe steht mit den Neuromuskulären Zentren in Deutschland sowie dem Deutschen Netzwerk für ALS (MNDNET) und der weltweiten International Alliance of ALS/MND Association in Kontakt und unterstützt hier die Förderung der Erforschung der ALS. Die Diagnosegruppe wird wie 2018 gezielte Fachveranstaltungen für Betroffene, Angehörige und Therapeuten anbieten.

Ferner informiert die Diagnosegruppe online über neueste Entwicklungen zur ALS, Forschungsstudien, Forschungspreise und vielem mehr. Sie übernimmt die Schulung der ehrenamtlichen ALS-Gesprächskreisleiter. Ergänzt durch die Beratung von Kontaktpersonen mit dem Schwerpunkt ALS erhalten Betroffene, Angehörige und Ratsuchende umfassende Hilfe. Ausführliche Informationen zur Diagnosegruppe finden Sie unter https://www.dgm.org/diagnosegruppe/als.

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v. l. Lothar Peterson, Tatjana Reitzig, Herbert Heinlein, Ingrid Haberland (Quelle: DGM)
WEITERE INFORMATIONEN

Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e. V. (DGM)Antje Faatz

Tel. 07665/94470

antje.faatz@dgm.orgwww.dgm.org

Die Selbsthilfe als Säule im Gesundheitswesen

Was bedeutet „Selbsthilfe“? Welchen Stellenwert nimmt sie im komplexen Gesundheitswesen in Deutschland ein?

Die gesundheitliche Selbsthilfe findet in selbstorganisierten Vereinigungen statt, in denen sich Betroffene über ein bestimmtes gesundheitliches Thema austauschen und aktiv an therapeutischen oder strukturellen Verbesserungen arbeiten. Der Fokus liegt überwiegend auf der Behandlung chronischer Erkrankungen, den damit verbundenen alltäglichen Herausforderungen und der gesellschaftlich angespannten Lebenssituationen der Betroffenen. „Darüber hinaus hat die Selbsthilfe große Relevanz für die Informationsgewinnung. Vor allem liefern die Selbsthilfegruppen den Erkrankten Informationen, die sie von professionellen Akteuren nicht erhalten haben.“ In den letzten Jahren hat sich das Rollenverständnis des Patienten maßgeblich weiterentwickelt. Zum einen hat sich der Zugang zu (medizinischem) Wissen und der Austausch darüber durch die Digitalisierung vereinfacht, zum anderen führt das Bestreben zu mehr Selbstverständnis und zur Eigenverantwortung hin zum mündigen und informierten Patienten.

Aufgrund dieses Bewusstseinswandels in der Gesellschaft haben sich der Aufgabenkatalog und die Einbindung der Selbsthilfeorganisationen in die bestehenden Strukturen des Gesundheitswesens erweitert. Die Selbsthilfe übernimmt einen aktiven Posten in politischen Verfahren, beteiligt sich an sozial-medizinischen Diskussionen und agiert als selbstbewusster, ernstzunehmender Akteur in den unterschiedlichen Netzwerken.

Die gesellschaftliche Bedeutung zeigt sich auch an den aktuellen Zahlen: In Deutschland gibt es ca. 100 000 Selbsthilfegruppen mit überwiegend ehrenamtlich tätigen Mitgliedern; diese werden wiederum häufig durch überregionale Selbsthilfeorganisationen unterstützt. Weiterhin sind ca. 300 Selbsthilfekontaktstellen koordinativ und konkret-praktisch im Einsatz vor Ort. Somit ist die Selbsthilfe neben niedergelassenen Ärzten, dem öffentlichen Gesundheitsdienst und lokalen Krankenhäusern die sogenannte vierte Säule im Gesundheitswesen.

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Wie wirken Selbsthilfegruppen? Grafik aus der SHILD-Studie [[3]].Quelle: Dierks ML, Kofahl C. Gesundheitsbezogene Selbsthilfe in Deutschland – Entwicklungen, Wirkungen, Perspektiven (SHILD), 2018

Welche Aufgaben und welchen Nutzen hat die Selbsthilfe?

Neben der Beteiligung an wissenschaftlicher Forschung und Medizin ist eine wesentliche Aufgabe der Selbsthilfe die Förderung der Gesundheitskompetenz ihrer Mitglieder. „Betont wird hier die ‚Normalisierung‘ der oft als Ausnahmesituation wahrgenommenen eigenen Lage und die Linderung von Angst sowie die damit einhergehende Entlastung. Andere Diskutanten und Diskutantinnen bestärken dies und unterstreichen außerdem das emotionale Verständnis, das in der Selbsthilfegruppe vorherrscht“ [[1]]. Selbsthilfe als Chance für den mündigen Patient wird als elementare Säule im Gesundheitswesen angesehen. Der Leitfaden der NAKOS (Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen) schreibt: „Betroffene und Fachleute berichten […] von einem anderen Umgang mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen; diese werden durch Selbsthilfegruppen zwar nicht geheilt, aber das Wissen über die Erkrankung und Behinderung und die Kompetenzen im Umgang damit werden erheblich gestärkt und die seelischen und sozialen Folgen können erheblich gemildert werden…“ [[2]]. Kann der Patient sein Krankheitsbild kognitiv erfassen, nimmt ihm das die Ohnmacht bzw. Hilflosigkeit und erleichtert möglicherweise die Akzeptanz des Leidens.

Unterstützt wird diese Aussage durch viele Untersuchungen. Für Deutschland ist die SHILD-Studie [[3]] maßgeblich; sie verdeutlicht die grundlegenden Strukturen der Selbsthilfe. Diese wirkt sich positiv auf Kommunikation, Gemeinschaft, Wissen und Lebensbewältigung aus (s. Grafik aus der SHILD-Studie). Besonders der Bereich der Wissensvermittlung ist auffällig positiv besetzt. Sowohl auf dem komplexen Feld der medizinischen Fakten als auch bei Kenntnissen über Finanzierung, Pflege, Versorgung und Vorsorge erlangen Mitglieder der Selbsthilfe tendenziell einen Mehrwert.

Viele weitere Studien, die sich mit den Effekten und Auswirkungen der Selbsthilfe beschäftigen, beschreiben die positive Wirkung auf die Betroffenen. „Zwar konnten in 3 von 7 Studien keine positiven Unterschiede zu den Kontrollgruppen aufgezeigt werden, doch erbrachte auch keine der Studien negative Unterschiede zu den Kontrollgruppen. Ebenso wurde in keiner der Studien eine Verschlechterung durch die Gruppenteilnahme nachgewiesen. Angesichts der naturalistischen Studiendesigns kann man deshalb durchaus von einer positiven Bilanz sprechen, die für die Effektivität von SHGs spricht“ [[4]].


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Wie trägt sich die Selbsthilfe?

Besonders im Gesundheitswesen dominiert die Steuerung über die Ökonomie. Es stellt sich somit die berechtigte Frage nach dem gesundheitsökonomischen Nutzen der Selbsthilfeaktivitäten. Diese Aktivitäten umfassen Aufgaben in der medizinischen und sozialrechtlichen Patienteninformationsversorgung, in der sozial-psychologischen Unterstützung sowie umfangreiche Wegweiser-Funktionen für Betroffene. Somit trägt die Selbsthilfe wesentlich dazu bei, die Gesundheitskompetenzen von Patienten zu fördern sowie gezielt Prozesse in Gang zu setzen. Der volkswirtschaftliche Nutzen dieser umfangreichen Aktivitäten wird in zahlreichen Studien [[5], [6]] beschrieben.

Die wesentliche Finanzierung der Selbsthilfe wird über die Mitgliedsbeiträge sowie Spendengelder geleistet. Zudem werden eine Pauschalförderung und weitere Angebote über die Selbsthilfeförderung lt. § 20 SGB V finanziert; dazu sind die Krankenkassen entsprechend gesetzlich verpflichtet. „Der Gesetzgeber gibt den gesetzlichen Krankenkassen vor, Selbsthilfe im Gesundheitsbereich zu fördern. Krankenkassen und Krankenkassenverbände sind verpflichtet, Selbsthilfegruppen, Selbsthilfeorganisationen und die gesundheitsbezogene Unterstützungsarbeit von Selbsthilfekontaktstellen zu fördern“ [[2]].


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Was ist die DGM?

Als älteste und größte Selbsthilfeorganisation im neuromuskulären Bereich ist die DGM mit ihren mehr als 8500 Mitgliedern untergliedert in 15 Landesverbände und 10 Diagnosegruppen. Mehr als 100 Gesprächskreise und ca. 400 ehrenamtliche Kontaktpersonen stehen als Ansprechpartner für die Betroffenen und ihre Angehörigen zur Verfügung. Eine Vielzahl von Veranstaltungen dient dazu, umfangreiche Informationen über neuromuskuläre Erkrankungen und den Umgang damit zu verbreiten. Diese Beratungsmöglichkeiten zu medizinisch-therapeutischen und auch zu persönlich-sozialen Themen werden in zunehmendem Maße in Anspruch genommen. Somit ist die DGM ein wesentlicher Akteur in der Selbsthilfe für Muskelkranke und ihre Familien.

Daher ist die DGM auch gesellschaftspolitisch aktiv. Ihre Mitglieder unterhalten ein Mito- und Myositis-Netzwerk, unterstützen Forschungsvorhaben und arbeiten im Gremium des G-BA, um über Themen im neuromuskulären Bereich zu verhandeln.

Die Angebotsvielfalt der DGM wird von den Betroffenen kontinuierlich angenommen und eingefordert. Die Vielzahl an nachgefragten Publikationen, die wachsende telefonische Beratung, die steigende Mitgliederzahl und das stetige Interesse an Fachtagungen signalisieren einen großen Informations- und Austauschbedarf. Zusätzlich zeigen die unterschiedlichsten Anforderungen anderer Akteure aus dem Gesundheitswesen (Politik, Gesellschaft, Pharmaunternehmen, Krankenkassen, Medizin und Forschung) ein hohes Interesse an einem weiteren, breit aufgestellten Engagement der DGM. Aus diesen Konstellationen bzw. der unterschiedlichen Zieldefinitionen der Kooperationspartner erwachsen gelegentlich konträre Herangehensweisen, die zwangsläufig zu differenzierten Meinungsbildern führen. Gerade dann ist es Aufgabe der Selbsthilfe, parteiisch die Position der Betroffenen zu vertreten und für diese ein zuverlässiger Ansprech- und Kooperationspartner zu sein. Ein Zugewinn an Lebensqualität, der über die Erkrankung der Mitglieder hinausreicht, ist und bleibt übergeordnetes Ziel der Gesundheitsförderung der DGM. Weitere umfangreiche Informationen über die DGM beschreibt die Internetpräsenz: www.dgm.org.


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