Der Schmerzpatient 2019; 2(02): 59-60
DOI: 10.1055/a-0873-6474
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schmerzchronifizierung und Therapieresistenz

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Publication Date:
12 April 2019 (online)

Zusammenfassung der Studie

Ziel

Design Übersichtsarbeit

Durchführung/Intervention Ein internationales Autorenteam aus anerkannten Schmerzforschern um David Borsook vom ‚Center for Pain and the Brain (PAIN Research Group)‘ in Boston beschäftigte sich jüngst mit den möglichen Beiträgen und Zusammenhängen biologischer, sozialer und psychologischer Störeinflüsse, die der Entwicklung eines therapieresistenten chronischen Schmerzes zugrunde liegen. Sie entwickelten hierzu ein „Concept of Stickiness“. Dieses ‚Konzept des anhaftenden Schmerzes‘ beschreibt die multiplen Einflüsse für das Persistieren von Schmerz und Schmerzverhalten sowie für die hartnäckige Resistenz gegenüber therapeutischen Interventionen.

Für ihr Konzept fokussieren Borsook et al. auf die Neurobiologie von Aversion und Belohnung, um zu demonstrieren, wie Veränderungen der synaptischen Plastizität von neuronalen Netzwerken und Systemen zum ‚Anhaften des Patienten an seinen Schmerz‘ beitragen können. Abschließend proklamieren sie die Integration neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in das Wissen zu sozialen und Umweltbedürfnissen, um so das therapeutische Vorgehen abhängig von der individuellen Vulnerabilität abzuleiten.


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Methodik

Nach einer ausführlichen Einleitung zur volkswirtschaftlichen Bedeutung und individuellen Entstehung chronischer Schmerzen referiert die fünfköpfige ‚PAIN Research Group‘ über die Relevanz bekannter Störeinflüsse für die Entwicklung chronischer Schmerzen.

Folgende Störeinflüsse werden ausführlich behandelt: kognitiv-affektive Einflüsse mit Betonung auf Angst- und Vermeidungsverhalten, demografische und sozioökonomische Einflüsse (mit Berücksichtigung der allostatischen Belastung), genetische Prädisposition und Resilienz (mit Betonung der genetischen Dispositionen durch spezielle Gene der nicht-inflammatorischen Stressantwort, der ZNS-Sensitivierung sowie der Veränderung immunologischer Reaktionen), epigenetische Faktoren, allostatische Belastungen, klinische Hinweise auf das „Concept of Stickiness“, analgetische Effizienz und durch Schmerzmedikamente ausgelöste kortikale Veränderungen sowie schließlich auch Umweltfaktoren.

Angesichts der enormen Fülle dieser Aspekte erstaunt es nicht, dass der Artikel auf rund 300 Zitate zurückgreift. Zum leichteren Verständnis der komplexen Zusammenhänge zwischen Schmerzbedingung, Epigenetik und Störeinflüssen präsentieren die Autoren eine anschauliche Grafik.


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Ergebnisse

Die Neurobiologie des „Concepts of Stickiness“ fokussiert auf die synaptische Plastizität, die Stressreaktion der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA), Hirnkonnektivitäten sowie auf endogene Regulatoren wie opioid- und dopaminerge Transmittersysteme. Aus dieser Vorstellung heraus entwickeln Borsook et al. drei potentielle Forschungsansätze, die als aussichtsreich erscheinen, um das ‚Klebenbleiben‘ der Betroffenen im chronischen Schmerz aufzulösen.

Einen ersten bis dato wenig beachteten Ansatz erkennt das Autorenteam in der Reduktion der Energie in den sich verändernden Synapsen sowie in der Beeinflussung der Mitochondrien. Dieser Gedanke scheint plausibel, wenn man bedenkt, dass die synaptische Plastizität erhebliche Energieressourcen benötigt.

Der zweite Ansatz fokussiert auf das Erkennen, Verwalten und letztendliche Zurückdrängen maladaptiver synaptischer Konnektivität. Dieser Therapieansatz könnte nicht nur eine Normalisierung der synaptischen Verbindungen sondern auch der Gedächtnisanteile bewirken.

Der dritte wesentliche Therapieansatz konzentriert sich auf die Wiederherstellung maladaptiv veränderter neuronaler Netzwerke – ein Gedanke, zu dem bisher die meisten erfolgversprechenden Untersuchungen vorliegen: So wurde u. a. für Fibromyalgie oder chronische Migräne gezeigt, dass durch die Normalisierung maladaptiv veränderter Netzwerke eine Symptomverbesserung zu erreichen ist. Die Möglichkeiten, eine solche Veränderung zu initiieren, reichen von der pharmakologischen Beeinflussung über elektrische oder magnetische Stimulation bis hin zur Physio- und Psychotherapie.


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Schlussfolgerung

Die Autoren bemängeln, dass bisherige Schmerztherapien fälschlicherweise neurobiologische Überlegungen weitestgehend vernachlässigen. Insbesondere beanstanden sie die fehlende Spezifität der Therapie hinsichtlich der Entstehungsmechanismen des chronischen Schmerzes. Mit der Entwicklung des „Concept of Stickiness“ versuchen sie, dieser Spezifität näher zu kommen.

Als ersten kritischen Schritt fordern Borsook et al. die „Rückbesinnung auf die biologische Funktion von Schmerz als motivationalen Antrieb, Schaden zu vermeiden“. Die ideale Schmerztherapie der Zukunft bestünde demnach aus dem Verständnis der individuellen Genetik zur Abschätzung von Resilienz, aktuellem Status und psychologischer Vorgeschichte. Gleichzeitig müsse bspw. die nozizeptive Belastung im Umfeld von Operationen massiv reduziert werden, das therapeutische Eingreifen bereits bei Beginn der Schmerzen erfolgen, und schließlich das Wissen hinsichtlich der aggressiven Vorgehensweise zur Unterstützung der Normalisierung des ZNS genutzt werden.


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