Nervenheilkunde 2019; 38(01): 7-9
DOI: 10.1055/a-0824-2040
Editorial
Georg Thieme Verlag KG

Grade der Evidenz

Graded Evidence
Manfred Spitzer
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Publication Date:
22 February 2019 (online)

Schon immer fragten Menschen, die mit Behauptungen konfrontiert wurden, woher man etwas weiß, wie man es weiß und wie sicher diese Behauptungen tatsächlich sind. „Herr Meier sagt das auch“ galt dabei weniger als „die Wissenschaft hat festgestellt, dass …“. Vielen Menschen wiederum gilt das weniger als die schlichte Aussage „so ist es eben“. Und manche vertrauen dem Herrn Meier sehr, wenn er „Prof. Dr. Meier“ heißt. Ordnung in diesem Chaos haben Menschen geschaffen, die in einem Bereich arbeiten, in dem Meinungen nicht – wie oft am Stammtisch – egal sind, sondern Leben oder Tod bedeuten können, nämlich in der Medizin.

Es war daher für die Medizin sehr wichtig und hilfreich, dass sich Experten des Problems der Ordnung von Wissen annahmen. Dies geschah im Rahmen der noch gar nicht so lange existierenden „Evidence based Medicine“[1]. Auf Deutsch übersetzte man das mit „evidenzbasierte Medizin“ (EbM) – leider. Denn das englische Wort „evidence“ bedeutet „Beweis“, wohingegen das deutsche Fremdwort „Evidenz“ eher so etwas wie „Offensichtlichkeit“ bedeutet, die gerade keines Beweises bedarf: Wenn wir sagen, dass etwas „evident“ sei, dann wollen wir damit ausdrücken, dass wir es nicht zu beweisen brauchen, weil es „aus sich heraus offensichtlich“ ist (lateinisch: “e-videre“ = „heraus-sehen“). Man müsste im Deutschen daher eher von „an Beweisen orientierter Medizin“ sprechen, was den Leuten jedoch offenbar zu umständlich war.[2]

Je nach Beweislage lässt sich medizinisches Wissen in solches einteilen, das durch Experimente (randomisierte kontrollierte Studien; engl. randomized controlled trials, abgekürzt RCTs) gut bewiesen ist, bis hin zu solchem, das im Grunde nicht existiert. Dazwischen gibt es Abstufungen wie ▶Tab. 1 zeigt.

Man sieht, dass die früher übliche Rechtfertigung medizinischen Handelns durch Expertenmeinung („wir sehen Erfolge“) [[8]] den schlechtesten Evidenzgrad darstellt. Man sieht ferner, dass es oberhalb von „1a“ keinen weiteren Evidenzgrad gibt, obwohl wir täglich mit solcherlei Evidenz (vom „Grad 0“, um den man die Ta-belle erweitern müsste) zu tun haben und sie verwenden: „Jung-gesellen sind unverheiratet“, „zwei mal zwei gleich vier“, „s = g/2 mal t2“ sind Beispiele von Behauptungen, zu denen man nicht nur keine RCTs finden kann, sondern zu denen RCTs nicht einmal sinnvoll sind!

Ein Beispiel: Die Infusionsflasche muss im Vergleich zum Bett des Patienten höher hängen. Dies ergibt sich nicht aus einer Metaanalyse verschiedener Studien, bei denen man randomisiert und kontrolliert die Flasche mal über und mal unter das Bett gehängt hat. Vielmehr folgt dies aus den Gesetzen der Naturwissenschaft. Auch um die positiven Auswirkungen eines Fallschirms auf die Überlebensrate nach Sprüngen aus großer Höhe nachzuweisen, bedarfes keiner kontrollierten randomisierten Studie.[3] Vieles, was in der Medizin gewusst und getan wird, folgt aus unserem Wissen über die Welt. Oft erscheinen diese Zusammenhänge so trivial, dass wir sie gar nicht als solche erkennen bzw. denken.

Tab. 1

Grade der Evidenz[2]

Grad (Stufe)

Art des Beweises einer Behauptung

1a

Metaanalyse von guten randomisierten, kontrollierten Studien, d. h. Experimente

1b

Mindestens eine gute randomisierte, kontrollierte Studie, d. h. ein Experiment

2

Quasi-Experiment (keine Randomisierung). Mindestens eine gute Studie

3

Korrelation, Wiederholungsmessung, Beobachtung. Mehr als eine Studie der Typen Vergleichsstudie, Korrelationsstudie, Fall-Kontrollstudie

4

Meinung von Expertengruppen

5

Expertenmeinung

Was geschieht, wenn man diese Tatsache übersieht, zeigt ein Blick in die Geschichte der (evidence based) Medicine recht klar. Die Engländer sprachen ursprünglich nicht von „evidence-based“, sondern von „science-based“ medicine. Damit jedoch handelten sie sich Kritik gerade von denjenigen Medizinern ein, die sich schon immer einer wissenschaftlichen Medizin verpflichtet fühlten. Denn seit Ernst Wilhelm Brücke (1819–1892), Emil DuBois-Raymond (1818–1896), Hermann Helmholtz (1821–1894), Carl Friedrich Wilhelm Ludwig (1816–1895) und Rudolf Ludwig Karl Virchow (1821–1902) und andere um die Mitte des vorletzten Jahrhunderts die damals sehr radikale[4] Idee hatten, Medizin als angewandte Naturwissenschaft zu betrachten, verfolgten weltweit Millionen von Ärzten und Wissenschaftlern diese Idee mit beispiellosem Erfolg. Ihnen allen in den 1990er-Jahren durch eine kleine Gruppe von Epidemiologen und eher statistisch als naturwissenschaftlich interessierten Ärzten zu sagen, „jetzt machen wir endlich mal wissenschaftliche Medizin“, muss den Kollegen wie ein Schlag ins Gesicht vorgekommen sein! – Wie konnte das geschehen?

„Logisch“ – im Sinne von „systematisch“ – begründet ist dies nicht. Man muss schon Psychologie bemühen, um zu verstehen, wie der Eindruck entstehen konnte, dass es „zwei Sorten“ von naturwissenschaftlicher Medizin geben könne, die sich noch dazu bekämpfen.

Die Medizingeschichte ist voller Irrtümer, begangen von intelligenten und wohlmeinenden Ärzten und Wissenschaftlern. Obwohl man aus Fehlern sehr viel lernen kann, kommen diese unzählig vielen aus der Geschichte bekannten Fehler in der Ausbildung zum Arzt nicht vor. Denn „praktisch“ sollten und dürfen sie nicht vorkommen! Angesichts des mittlerweile übervollen Füllhorns an vom Studenten zu bewältigenden medizinischen Wahrheiten ist es auch kaum einzusehen, ihn auch noch mit den – im Grunde noch viel zahlreicheren – Fehlern zu belasten.

Das ist übrigens in anderen Wissenschaftszweigen nicht anders. Nur am Rande erfährt man in der Chemie, wenn überhaupt, vom Phlogiston, dem Feuerstoff, oder in der Physik vom Äther, dem Stoff, den es überall im Weltraum geben musste, weil ebenso wie Wasserwellen die Wasseroberfläche und Schallwellen die Luft als Medium ihrer Ausbreitung brauchen, das Licht eines Mediums bedürfe, um sich ausbreiten zu können. Das klingt logisch. Und so musste es eben auch den Äther geben.

Lernt man in der Chemie über die Oxidation, wird klar, dass man Phlogiston zur Erklärung des Feuers nicht braucht. Und nicht anders ist es in der Physik, wenn man im Rahmen von Einsteins Relativitätstheorie erfährt, dass die Lichtgeschwindigkeit gerade nicht relativ ist – zu irgendeinem Medium, das man „Äther“ oder „Hitzliputzli“ nennen könnte (das ist egal, weil es das ja nicht gibt).

Ähnlich dem Phlogiston oder dem Äther gab es in der Medizin die 4 Körpersäfte und das Miasma, mindestens 4 Theorien zur Wirkungsweise von Extrakten aus der Pflanze „Fingerhut“ bei Herzkrankheiten und viel zu viele Operationen, z. B. bei Patientinnen mit Brustkrebs (die zwar überlebten, aber vielerlei leidvolle Folgeerscheinungen zu ertragen hatten) oder bei Fußballern mit Bänderrissen (die zwar eine Woche nach der Kunstband-OP wieder auf dem Spielfeld standen, später aber allesamt nachoperiert werden mussten und ebenfalls zeitlebens an den Spätfolgen herumlaborierten).

Es gehört zu den herausragenden Charakteristika der heutigen Medizin, dass Grundlagenforschung und praktische Anwendung eng verzahnt sind und nicht jeder für sich vor sich hin wurstelt – weder der Praktiker mit seinen notwendigerweise unsystematischen Erfahrungen, noch der Grundlagenforscher mit seinen grauen Theorien, womit übrigens nicht deren Farbe, sondern deren mehr oder weniger große Praxisferne, beschrieben wird.

Manche Vertreter der evidenzbasierten Medizin möchten „Denken“ durch „Herumprobieren“ ersetzen, wie das folgende Zitat zeigt: „In der deutschen Wissenschaftstradition besteht ein starkes Bedürfnis, natürliche Phänomene, wie etwa Krankheiten, von Grund auf zu begreifen. Diesem Ringen um Durchdringung, das man durchaus auch und ohne Abwertung romantisch nennen kann – romantisch im Sinne einer Sehnsucht, den tiefen Grund der Welt zu erfassen, sie ganzheitlich zu verstehen –, verdankt die Wissenschaft viel“, schreibt Christopher Baethge [[1]], Medizinprofessor und Leiter der medizinisch-wissenschaftlichen Redaktion des Deutschen Ärzteblatts. Er übersieht, dass es nichts Praktischeres gibt als eine gute Theorie. Denn wo kämen wir hin, wenn wir unsere Studien – ohne jedes theoretische Vorverständnis – so planen würden, dass wir in einer Tabelle mit allen Krankheiten in den Zeilen und allen bekannten medizinischen Wirkstoffen in den Spalten einfach jedes Kästchen der Tabelle mit mindestens einer randomisierten kontrollierten Studie zu füllen trachteten? Das Gedankenspiel macht deutlich, dass das von Baethge propagierte Motto „Don’t think, try“ in der medizinischen Forschungspraxis völlig ungenügend ist.[5]

Der Versuch, Einzelnes als Spezialfall von Allgemeinem zu begreifen ist weder „romantisch“, noch geht es hier um „Ganzheitliches“, sondern vielmehr um genaue Beobachtungen, zielgerichtete Analysen und brauchbare Modelle, die vom Weglassen all dessen leben, was unwichtig ist. Deren Überprüfung sollte so rigoros wie möglich sein, und hier kommt die systematische Erfahrung, wie sie die evidenzbasierte Medizin fordert, zu Recht ins Spiel.

Kritiker sprechen dann oft von „Schulmedizin“ und stellen dieser eine „Erfahrungsmedizin“ gegenüber, deren Kern bei genauer Betrachtung nichts weiter ist als „unsystematische Erfahrung“. Denn die beste Art von Erfahrung ist nun einmal das Experiment, denn es erlaubt Schlüsse zu Ursache und Wirkung. Wer die Grundlagenforschung – Beobachtung, Modell, Experiment – aufgibt oder Modellbildung gar gegen systematische Überprüfung durch RCTs sogar gegeneinander ausspielt, hat nicht verstanden, wie Medizin funktioniert.

Sowohl im Rahmen der Beobachtung als auch bei der nachfolgenden Theoriebildung ist der Rückgriff auf semantische Wahrheiten und mathematische Gegebenheiten vom „Evidenzgrad 0“ unverzichtbar. Man könnte auch sagen: Ohne Nachdenken funktioniert Wissenschaft nicht. „Don’t think“ ist mithin keine gute rationale Rekonstruktion dessen, was medizinische Forschung leistet.

Es ist zwar psychologisch verständlich, aber im Grunde sehr schade, dass eine gewisse blinde Euphorie bei den Urvätern der EbM dazu geführt hat, dass man die Wissenschaft als „romantisches Ganzheitlichkeitsgetue“ falsch verstanden abgetan hat. Wer Kinder mit dem Bade ausgeschüttet, ruft empörte Eltern auf den Plan, und so kam es dann auch. Hinzu kommt ein weiteres Missverständnis im Hinblick auf das, was EbM leistet und was nicht, das sich sehr einfach illustrieren lässt.

Jeder Architekt weiß, dass die Regeln der Physik nicht ausreichen, um ein schönes und praktisches Gebäude zu erstellen. Der individuelle Ort mit seiner unverwechselbaren Eigenart, die geplante Nutzung, die Nutzer und die vielen anderen, die am Ort oder an der Funktion irgendwie beteiligt oder davon betroffen sind, bestimmen letztlich (wenn es gut geht) darüber, was und wie im Einzelnen gebaut wird. Architektur ist eben nicht nur Naturwissenschaft, sondern auch Kunst.

Nicht anders ist es mit der Medizin. Medizinisches Handeln besteht immer in der Anwendung allgemeiner Prinzipien auf einen bestimmten einzelnen Menschen. Diese Handlungen im Einzelfall sind durch das allgemeine Wissen nicht vollständig determiniert und können es gar nicht sein. Daher spricht man ja auch im Bereich der Medizin von der ärztlichen Kunst, d. h. von der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf einen Einzelfall. Hierbei handelt es sich nicht um Wissenschaft, sondern um praktisches Handeln. Und ebenso wenig wie sich ein Haus gegen die Physik bauen lässt, kann man gegen die Naturwissenschaft Medizin treiben. Zugleich gehört zum Hausbau mehr als Physik. Nicht anders ist das in der Medizin, wo handeln mehr ist als Wissenschaft. Das Anwenden allgemeiner Erkenntnisse auf den Einzelfall ist mehr als Wissenschaft bzw. genau genommen gar keine, sondern etwas anderes: eben praktisches Handeln. Dass man auch hierbei seinen Verstand gebrauchen sollte, versteht sich von selbst. Es geht hier nicht um Bauchgefühle, Emotionen, Empathie oder irgendeine feinstoffliche Ganzheitlichkeit, sondern um Entscheidungen, die man vielleicht in der oft gebotenen Eile nicht vollständig überdenkt, die sich jedoch – hoffentlich – im Nachhinein unschwer rational rekonstruieren lassen.

Als letztes sei noch betont, dass es in der medizinischen Praxis ganz oft darauf ankommt, rasch einen guten Gedanken zu haben („auf etwas zu kommen“, wie man sagt: diagnostische Einordnungen, eine therapeutische Entscheidungen). Wie man auf solche guten Gedanken kommt, ist eine schwierige und von der Kreativitätsforschung noch nicht gänzlich geklärte Frage. Aber eines weiß man: Je mehr Vorkenntnisse jemand hat, desto eher kann er eine kreative Idee haben. Allein aus dieser Sicht ist das gelegentlich zu beobachtende „Ausspielen“ von „Schulmedizin“ gegenüber der „Intuition“ eines „empathischen Arztes“ wenig zielführend, um nicht zu sagen: Unsinn.

Fassen wir zusammen: Medizin als Wissenschaft braucht Vorwissen und Experimente. Medizin als Handeln braucht Kreativität. Die Reduktion von Wissenschaft auf unterschiedlich starke Beweise oder die von Handeln auf die korrekte Anwendung dieser Beweisstärken ist keine rationale Rekonstruktion dessen, was Ärzte als Wissenschaftler oder als Anwender tun. Mit diesem Hintergrund lässt es sich mit der evidenzbasierten Medizin gut leben.