intensiv 2019; 27(01): 6-7
DOI: 10.1055/a-0753-4212
Kolumne
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Für unsere Mutter

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Publication Date:
04 January 2019 (online)

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(Quelle: Paavo Blafield)

„Vom Standpunkt der Jugend aus gesehen ist das Leben eine unendlich lange Zukunft. Vom Standpunkt des Alters aus eine sehr kurze Vergangenheit.“

(Arthur Schopenhauer (1788–1860), deutscher Philosoph)

In wenigen Wochen hat unsere Mutter Geburtstag. Sie wird 80 Jahre alt und sagt selbst, dass dieser Geburtstag eine echte Hürde für sie ist. Obwohl sie, wenn sie sich so richtig schick macht, für gut und gern zehn Jahre jünger durchgeht, geistig völlig fit ist und sich auch gesundheitlich – außer über die paar altersgerechten Zipperlein – nicht groß beklagen kann. Oft vergleiche ich sie mit Patienten, die in ähnlichem Alter sind, und stelle fest, dass es durchaus schlimmer sein könnte. Und oft denke ich, dass ich mit 80 Jahren auch noch so fit sein möchte.

Durch diesen ihren runden Geburtstag habe ich viel darüber nachgedacht, welche bewegende Lebensgeschichte Menschen des Jahrgangs 1938 hinter sich haben. Als diese Kinder ein Jahr alt waren, begann der Zweite Weltkrieg, und entsprechend waren die ersten Kinderjahre geprägt. Auch meine Mutter war mit ihrer Mutter und ihrem Bruder auf der Flucht und hat in den Lebensjahren, die eigentlich unbeschwert sein sollten, Dinge erlebt, die ein Kind nicht erleben sollte. Wir wissen ja alle aus dem Geschichtsunterricht, wie es für dieses Land und seine Menschen weiterging: Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Mauerbau, BRD, DDR, Sozialismus, Kapitalismus, Kalter Krieg, Mauerfall, Wiedervereinigung und, und, und.

Aber so ein runder Geburtstag soll unbedingt auch einen fröhlichen Rückblick zulassen. Allein welche Modetrends die Frauen im Alter meiner Mutter erlebt haben! In den Fünfziger- und Sechzigerjahren waren Petticoats ganz groß im Rennen, und alle Frauen schienen eine Wespentaille zu haben. Und wenn ich Filme über diese Jahre sehe, wie zum Beispiel „Dirty Dancing“ oder „Grease“, finde ich es sehr schade, dass in meiner Zeit diese Mode nie wiederkam. Dabei soll sich doch gerade die Mode immer wiederholen! Mit dem Petticoat hat es leider nicht geklappt, und wenn das jetzt passieren würde, wäre ich wahrscheinlich zu alt dafür. Dafür durfte ich aber als junge Frau mit meiner Mutter um die exorbitantesten Schulterpolster, weitesten Schlaghosen und die unvermeidliche sehr, sehr krause und aus heutiger Sicht grausigste Dauerwelle wetteifern. Meist hat meine Mutter gewonnen.

Meine Eltern gingen zum Tanz, nicht in die Disco oder in den Club. Sie tanzten Twist – junge Leute wie mein Sohn kennen diesen Tanz gar nicht – und Rock ’n’ Roll. Sie hörten wahrscheinlich Elvis, die Beatles, Edith Piaf, Adriano Celentano, Caterina Valente und Doris Day. Viele Menschen hören heute noch gern diese Musik. Da frage ich mich, ob in zwanzig oder dreißig Jahren noch Helene Fischer oder vielleicht Nena zu hören sind. Ich hoffe ja, Nena macht dann das Rennen für sich aus.

Und dann die Haushaltstechnik und Elektronik! Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie beschwerlich das alltägliche Leben aus heutiger Sicht war. Da war an einen Waschvollautomaten, an eine Mikrowelle oder Spülmaschine nicht zu denken. Musik wurde entweder aus dem Radio (und nicht in Stereo) oder von Schallplatten gehört. Ich habe dann erst die Kassettenrekorder und später die CD-Player erlebt. Den ersten Farbfernseher in der Familie. Ich erinnere mich genau: Das war ein Event, und wir Kinder waren ganz aus dem Häuschen. Heute steht in jedem Zimmer der Wohnung ein Gerät. Damals gab es keine Videos oder DVDs. Super-8-Filme, die vorher selbst gedreht wurden, waren angesagt. Den ersten Heimcomputer für den Haushalt gab es in den 80er-Jahren und nicht bei uns zu Hause. Da hatten wir gerade mal ein Telefon – mit Wählscheibe!

Unsere Eltern hatten auch nicht immer ein Auto, und unsere Mutter hat sogar erst mit 60 Jahren ihren Führerschein gemacht! Sie fährt bis heute – nicht auszudenken, wie es wäre, müsste sie all ihre Einkäufe nach Hause tragen und wäre für jeden Weg auf Bus oder Bahn angewiesen.

In den Krankenhäusern trugen die Krankenschwestern noch bretthart gestärkte Hauben und über die Knie reichende lange Kleider mit weißen Schürzen darüber. Spritzen wurden ausgekocht und dann auf Station sterilisiert; Tupfer von Hand gedreht und Binden, die in Riesensäcken aus der Wäscherei kamen, meist vom Nachtdienst aufgewickelt. Für die Angehörigen der Patienten gab es Besuchszeiten – und nicht etwa jeden Tag. Meist mittwochs und sonntags von 15 bis 17 Uhr und nur für Erwachsene. Der Chefarzt an sich war Ehrfurcht einflößend und die Lobby der Krankenpflege genauso schlecht wie heute.

Flugreisen waren etwas ganz Besonderes, und nicht jeder konnte sich „große“ Urlaube im Ausland leisten. Schon gar nicht jedes Jahr. In unserer Familie wurde schon immer viel gelesen – natürlich der Zeit entsprechend richtige Bücher. Ich glaube, meine Mutter weiß gar nicht, was ein „Kindl“ ist, und hat von Hörbüchern eben nur gehört. Sie liest bis heute noch eine richtige Tageszeitung aus Papier. Aber sie hat einen Computer und kommt damit auch gut zurecht.

Sie hat auch ein Handy. Dessen Akku ist meist leer, und oft weiß sie nicht einmal, wo es gerade liegt. Wir Kinder wollten ihr ein Smartphone schenken. Aber sie möchte keines. Sie sieht sich gern auf unseren Geräten Bilder an, möchte aber selbst lieber altherkömmliche Fotos in der Hand haben, um sie dann wahrscheinlich in ein Fotoalbum zu kleben.

Ich könnte noch seitenlang über die Veränderungen schreiben, die unsere Mutter in diesen 80 Jahren erlebt hat. So viel Leben, so viele Veränderungen und so viele Erlebnisse – gute und weniger gute. Mögen noch viele und vor allem gute dazukommen.

Liebe Mutter, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

Deine Heidi

Heidi Günther
hguenther@schoen-kliniken.de