Laryngorhinootologie 2012; 91(01): 14-15
DOI: 10.1055/s-0031-1298031
Editorial
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Editorial

Österreichische Tonsillenstudie 2009–2010
H. Stammberger
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Publication Date:
09 January 2012 (online)

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H. Stammberger

Um zu verstehen, was zur sogenannten „Österreichischen Tonsillenstudie 2009–2010“ geführt hat, ist ein Blick auf die Hintergründe hilfreich:

In den Jahren 2006 und 2007 kam es in Österreich zu insgesamt 5 Todesfällen bei Kleinkindern unter 6 Jahren als direkte oder mittelbare Folge von Nachblutungen nach Tonsillektomie (TE); ein Erwachsener verstarb infolge einer TE-Nachblutung, welche sich am 19. postoperativen Tag auf einer Schihütte ereignete…

Diese außergewöhnliche Häufung von tragischen Ereignissen in einem relativ kurzen Zeitraum führten nicht nur zur – verständlich teilweise sehr emotionellen – medialen Bearbeitung der Thematik, sie stellte auch die Österreichische ­Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und ­Halschirurgie (ÖHNO) vor große Probleme. So schätzte man zwar, dass pro Jahr in Österreich (Population 2006/2007 ca. 8 Mio. Einwohner) rund 10 000 Eingriffe an Tonsillen und Adenoiden landesweit durchgeführt wurden; präzise Daten über Operationsformen (Tonsillektomie, Tonsillotomie, Adenotomie alleine, AD in Kombination mit anderen Eingriffen) standen jedoch nicht zur Verfügung, ebenso wenig genaue Angaben über Nachblutungsereignisse, Häufigkeit von chirurgisch versorgungspflichtigen Nachblutungen für die jeweiligen Operationsgruppen und -arten usw. Auch der Vergleich mit der interna­tionalen Literatur half nicht wirklich weiter, bekanntermaßen gibt es auch hier keine Standards, was die Definition einer Nachblutung per sé, des Zeitpunkts derselben, ihres Schweregrades und noch andere Detailparameter betraf.

In einem ersten Schritt erarbeiteten die Österreichische HNO-Gesellschaft und die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde Ende 2007 ein „Konsensuspapier“, revidierten Empfehlungen zu Operationsindikationen und vor allem Operationstechniken in den jeweiligen Altersstufen: Eine dieser Empfehlungen war, bei Kindern unter 6 Jahren nur mehr in absoluten Ausnahmefällen eine Tonsillektomie durchzuführen – hier sollte der Tonsillotomie (TO) der absolute Vorrang gegeben werden. Weiters wurden Empfehlungen für die postoperative Betreuung, für Eltern und Begleitpersonen neu erarbeitet, welche als Formblätter bei Entlassung mitgegeben wurden und österreichweit nur noch mit den jeweils regionalen Ansprechpartnern/Telefonnummern für allfällige Notfälle versehen werden mussten. Diese Unterlagen sind auf den Websites der beiden Fachgesellschaften in immer wieder aktualisierter Form abrufbar.

Ein erstes Projekt im Jahr 2008 an mehreren großen HNO-Abteilungen zeigte rasch, dass ohne eine exakte Vorgabe verschiedener Definitionen und verpflichtender Kriterien eine relevante und vergleichbare Aussage über ein großes Patientenkollektiv nicht erreicht werden konnte. Aus diesem Grund wurde die in diesem Heft vorgestellte „Österreichische Tonsillenstudie 2009/2010“ initiiert, in welcher allen teilnehmenden Institutionen – und dies waren praktisch alle HNO-Abteilungen Österreichs – genaue Kriterien vorgegeben wurden, die verpflichtend einzuhalten waren. Auf diese Weise konnten prospektiv und ­anonymisiert knapp 10 000 konsekutive Eingriffe im Zeitraum Oktober 2009 bis einschließlich Juni 2010 erfasst und ausgewertet werden – rund 100 Datenfelder pro Patient, knapp über 1 000 000 insgesamt.

Aus dieser nahezu flächendeckenden Erfassung in ganz Österreich lassen sich nun statistisch „harte“ und aufschlussreiche Daten ableiten:

So lässt sich eine genaue Übersicht über die Operationsindikationen, gestaffelt nach Altersgruppen geben, das Vorgehen z. B. bei Peri- und Retrotonsillarabszessen ablesen, die Operationstechnik zuordnen sowie auch eine präzise Statistik über Blutungen geben. Speziell zu diesem Zweck wurde ein eigenes Beurteilungsschema benutzt, in welchem alle bekanntgewordenen Nachblutungsereignisse, welche Patienten zum Arzt/ins Krankenhaus geführt haben, erfasst wurden – unabhängig davon, ob dieses Nachblutungsereignis nun operativ versorgungspflichtig war oder nicht. Daraus lassen sich nun aufschlussreiche Erkenntnisse gewinnen:

Wähnt man sich mit dem Gesamtprozentsatz von 2,7% operativ zu versorgender Nachblutungen im „guten“ internationalen Schnitt, so muss man bei näherer Analyse die Relativität einer solchen Aussage erkennen: So ist über alle Altersgruppen gesehen, die Tonsill ektomie eindeutig und mit Abstand der Eingriff mit den höchsten Nachblutungsereignissen (16%) von denen genau 1/3 chirurgisch versorgungspflichtig war (5,3% aller TE). Für die Erwachsenen, die sich einer TE mit oder ohne AE unterzogen, lagen die Nachblutungsereignisse mit 17% sogar noch höher. Auch hier musste 1/3 der Patienten mit Blutungsereignissen operativ versorgt werden – die TE bei Erwachsenen weist daher ein besonders hohes Risiko an operativ zu versorgenden Nachblutungen auf, nämlich rund 5,3% aller Fälle. Bei der Tonsillotomie sinkt die Zahl der Nachblutungsereignisse dagegen auf 2,3% aller Fälle ab, von denen aber ebenfalls 1/3 chirurgisch versorgungspflichtig war (0,8% aller Tonsillotomien). Multiple Nachblutungsereignisse führten immerhin bei 1/3 aller Betroffenen zu einer chirurgischen Versorgung. Im Rahmen der Studie zeigte sich die geringste Häufigkeit für versorgungspflichtige Nachblutungen in der Altersgruppe unter 6 Jahren mit 1,4% ­(allerdings wurden 81% der Kinder dieser Altersgruppe im Studienzeitraum bereits tonsillotomiert). Auch hier waren wiederum 1/3 operativ versorgungspflichtig (0,4% aller Operierten in dieser Altersgruppe).

Während die Häufigkeit von Nachblutungsereignissen mit zunehmendem Alter stieg, war dies für die Intensität der Nachblutung nicht der Fall. Hier zeigten sich bei den Schulkindern (6–15 Jahre) signifikant häufiger schwere Nachblutungen als in den anderen beiden Gruppen. Es zeigt sich also ein sehr differenziertes Bild für die verschiedenen Altersgruppen und OP-Arten – eine „Gesamt- oder Durchschnittsquote“ spiegelt dies nicht ­wider.

Es kam weder während der Studienphase noch in der Zeit danach in Österreich zu Todesfällen im Zusammenhang mit TEs, Tos oder ADs – rein statistisch ereignete sich jedoch 1x pro Monat österreichweit ein Nachblutung der Kategorie „D“ (Dramatische Nachblutung). Auch wenn glücklicherweise keinerlei Folgeschäden resultierten, so zeigen diese nun statistisch gesicherten Daten die Notwendigkeit zu einer (selbst-kritischen) Auseinandersetzung auf.

Die Auswertung aller Daten aus der Österreichischen Tonsillenstudie wird uns hoffentlich die Informationen in die Hand geben, die als Grundlage für weitere Diskussionen zum Thema Tonsillektomie/Tonsillotomie, ihren Indikationen und Ausführungen, von Nutzen sein können.

In der 3. Mitteilung zu diesem Thema, die demnächst in dieser Zeitschrift erscheinen wird, wird auf aus den Zahlen ableitbare Zusammenhänge zwischen Indikationen, OP-Techniken und -Instrumentarium eingegangen. Dabei zeigt sich – soviel sei an dieser Stelle schon verraten – ein starker Konnex von sowohl Nachblutungshäufigkeit wie auch -intensität mit der Verwendung von bipolaren Techniken.

Univ. Prof. Dr. Heinz Stammberger
Leiter der Klinischen Abteilung
für Allgemeine HNO an der
Medizinischen Universität Graz