physiopraxis 2011; 9(7/08): 22-23
DOI: 10.1055/s-0031-1285112
physiowissenschaft

Wissenschaft kommentiert – Neurodynamische Tests: Reaktionen individuell verschieden

Johannes Bessler
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
29. Juli 2011 (online)

Inhaltsübersicht

Um beurteilen zu können, ob ein klinischer Test auffällig ist, ist es wichtig, die Normwerte zu kennen. Diese zu bestimmen, ist bei neurodynamischen Tests schwierig. Das zeigt eine Studie aus England. Doch für Physiotherapeut Johannes Bessler brachte die Untersuchung dennoch ein paar hilfreiche Erkenntnisse.

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Johannes Bessler absolvierte einen „Master of Manual Therapy“ in Australien, unterrichtet international als Mulligan-Instruktor und ist Mitherausgeber der Zeitschrift „manuelletherapie“. Bei seiner Arbeit in einer Praxis in Heidelberg nutzt er neuro-dynamische Tests und Behandlungen häufig.

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Physiotherapeutischer Hintergrund

Um die Mobilität und Mechanosensitivität des N. medianus zu untersuchen, nutzt man den Upper Limb Neurodynamic Test (ULNT) 1 und den ULNT 2a (Abb.). Man beurteilt deren Bewegungsausmaß (ROM), auch im Seitenvergleich, sowie die sensorische Reaktion des Patienten. Die Tests gelten als positiv, wenn sie die Symptome des Patienten reproduzieren. Strukturelle Differenzierungen (z. B. die Seitneigung der HWS zur Gegenseite) helfen zu unterscheiden, ob die Symptome neurogenen oder mus-kuloskeletalen Ursprungs sind. Ändern sich die Symptome dabei, gelten sie als neurogen.

Auch Gesunde reagieren auf neurodyna-mische Tests. Über deren sensorische Reaktion findet sich jedoch nur wenig. Autoren [1] beschreiben, dass bei rund 80 % einer gesunden Gruppe ein Schmerz bzw. ein Dehngefühl am ventralen Ellenbogen bis zur Hand auftrat und ein Kribbeln in den ersten drei Fingern. Rund 10 % haben ein Dehngefühl im vorderen Schulterbereich [2]. Die Reaktionen auf den ULNT 1 und 2a scheinen teils verschieden zu sein [3]. Bezüglich geschlechtsbezogener Unterschiede und denen zwischen dominanter und nicht dominanter Seite ist die Evidenz rar.

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Fragestellung

Monika Lohkamp und Katie Small wollten primär wissen, wie bei Gesunden das normale ROM und die sensorische Reaktion während des ULNT 1 und 2a sind. Zudem interessierte sie, ob die Tests reliabel sind und ob Geschlecht, Armdominanz und strukturelle Differenzierung das Testergebnis beeinflussen.

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Ein- und Ausschlusskriterien

Die Probanden mussten zwischen 18 und 50 Jahre alt sein, durften keine der von Butler [4] beschriebenen Kontraindikationen aufweisen und sich während der letzten drei Monate nicht am Nacken oder an der oberen Extremität verletzt haben.

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Studiendesign

Empirische Studie, der Untersucher war gegenüber den gemessenen Winkelgraden verblindet.

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Intervention

Die Autorinnen rekrutierten 90 gesunde Sportstudenten (50 Männer, 40 Frauen). Sämtliche Messungen, Körpereinstellungen, Fragen etc. waren standardisiert. Für die Reliabilität der Winkelmessungen führten die Autorinnen jeden Test jeweils drei Mal hintereinander durch und maßen, wie weit die Teilnehmer schmerzfrei in Richtung Ellenbo-genextension (ULNT 1) bzw. Schultergelenkab-duktion (ULNT 2a) bewegen konnten. Außerdem führten sie alle Tests nacheinander an beiden Armen aus, und zwar jeweils mit und ohne vorherige kontralaterale HWS-Seitneigung.

Nach jedem Test befragten sie die Probanden nach dem Ausstrahlungsgebiet und der Art der sensorischen Reaktion.

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Abb. Der ULNT 2a: Gesunde reagieren auf diesen Test unterschiedlich. (Foto: H. v. Piekartz)

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Ergebnisparamater

Das Bewegungsausmaß (ROM) bestimmten die Autorinnen mittels Goniometer. Die Ausstrahlungsgebiete zeichneten sie in eine Körpertabelle ein. Außerdem befragten sie die Probanden zu den sensorischen Reaktionen während der Tests.

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Ergebnisse

Zwischen den Probanden waren die Unterschiede im Bewegungsausmaß bei beiden Tests sehr groß. Als sensorische Reaktion trat am häufigsten ein Dehnungsgefühl auf (58-63 % der Probanden), gefolgt von Schmerz (20-27 %) und Kribbeln (8-11 %).

Im dominanten Arm hatten die Probanden während des ULNT 2a häufiger Schmerzen, Kribbeln und „pins and needles“ als beim ULNT 1. Beim ULNT 1 machte sich die Armdominanz bezüglich des ROM minimal bemerkbar. Insgesamt reagierte der dominante Arm weniger sensorisch als der nicht dominante. Eine HWS-Seitneigung zur Gegenseite reduzierte bei beiden Tests das Dehnungsgefühl und erhöhte die Schmerzen. Außerdem verringerte sich dabei die Beweglichkeit des Armes statistisch signifikant um 7° (ULNT 1) bzw. 10° (ULNT 2a), und die sensorische Reaktion wurde mehr proximal wahrgenommen. Das Geschlecht hatte keinen Einfluss auf die Tests. Die Tests sind reliabel, wenn man sie zwei- oder dreimal nacheinander wiederholt.

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Schlussfolgerung

Bei beiden Tests zeigten sich im Bewegungsausmaß und der sensorischen Reaktion große individuelle Unterschiede. Klinisch ist daher ein Seitenvergleich wichtig. Dominanter und nicht dominanter Arm unterscheiden sich bezüglich ROM sowie Häufigkeit und Art der sensorischen Reaktion. Die sensorische Antwort auf die Tests erfolgt nicht nur im Ausstrahlungsgebiet des N. medianus, sondern auch in anderen Armbereichen - vielleicht, weil die Tests eher die Nervenwurzel beeinflussen als den peripheren Nerv. Die häufigsten Reaktionen waren Schmerzen und ein Dehnungsgefühl und somit nicht sensorisch.

Lohkamp M, Small K. Normal response to Upper Limb Neurodynamic Test 1 and 2A.

Man Ther 2011; 16:125-130

Kommentar

Neurodynamische Tests sind ein fester Bestandteil im Management muskuloskeletaler Beschwerden. Die Interpretation der Testergebnisse hängt oft von subjektiven Parametern ab. Daher würde das Wissen um die physiologische Reaktion auf den ULNT 1 und 2a bei der Beurteilung der Befunde helfen. Doch die Ergebnisse der Studie sind insgesamt nicht so signifikant und aussagekräftig, dass man damit diesbezüglich eine eindeutige Orientierung bekommen könnte. Da es Monika Lohkamp und Katie Small nicht möglich war, einen „Normwert“ hinsichtlich der Häufigkeit und Art der sensorischen Antwort sowie dem normalen Bewegungsausmaß bei beiden Tests zu bestimmen, hält sich der klinische Nutzen der Untersuchung leider in Grenzen. Betrachtet man neurodynamische Tests wie den ULNT 1 und 2a isoliert, sind diese somit auch weiterhin nicht suffizient, um zu beurteilen, ob das Nervensystem an den muskulo-skeletalen Beschwerden von Patienten beteiligt ist [5]. Dennoch gibt es neue Erkenntnisse:

ULNT 2a bei Schleudertrauma nutzen > Michelle Sterling und Kollegen empfehlen den ULNT 1, um die Mechanosensitivität bei Patienten mit Schleudertrauma (Whiplash Associated Disorders, WAD) zu beurteilen [6]. In der vorliegenden Studie erfolgte eine sensorische Reaktion jedoch häufiger beim ULNT 2a, weswegen dieser Test bei Patienten mit WAD wichtige zusätzliche Hinweise liefern könne.

Strukturelle Differenzierung ist sinnvoll Mehrere Studien [7, 8, 9] bezeichnen eine strukturelle Differenzierung als klinisch hilfreich. Die vorliegende Studie konnte das nicht bestätigen: Zwar waren die Unterschiede in der Reaktion mit und ohne HWS-Seitneigung (7-10°) statistisch signifikant, klinisch relevant jedoch nicht. Da sich durch die Seitneigung aber auch andere Parameter veränderten, ist eine Strukturdifferenzierung sicherlich auch weiterhin in der Praxis hilfreich. Dies bestätigt die übrige Literatur ebenfalls.

Gesunde haben eher ein Dehngefühl > Bei Gesunden scheint die sensorische Reaktion auf die Tests eher ein Dehngefühl zu sein als andere Symptome wie Schmerzen oder Kribbeln. Die Reproduktion der Symptome des Patienten bleibt daher eines der wichtigsten Kriterien, um neurodynamische Tests zu beurteilen. Die Studie belegt außerdem die Relevanz des Seitenvergleichs.

Johannes Bessler

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Johannes Bessler absolvierte einen „Master of Manual Therapy“ in Australien, unterrichtet international als Mulligan-Instruktor und ist Mitherausgeber der Zeitschrift „manuelletherapie“. Bei seiner Arbeit in einer Praxis in Heidelberg nutzt er neuro-dynamische Tests und Behandlungen häufig.

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Abb. Der ULNT 2a: Gesunde reagieren auf diesen Test unterschiedlich. (Foto: H. v. Piekartz)