physiopraxis 2010; 8(3): 18
DOI: 10.1055/s-0030-1251565
physiowissenschaft

Wissenschaft Erklärt: Leitlinien – Die S-Klasse

Jan Mehrholz
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Publication Date:
15 March 2010 (online)

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Leitlinien unterstützen Therapeuten in ihrer Entscheidung, welchen Patienten sie wie therapieren. Wer Leitlinien entwickelt und was es mit den Bezeichnungen S1, S2 und S3 auf sich hat, erklärt Ihnen dieser Artikel.

Weltweit gibt es zu verschiedenen medizinischen Diagnosen bestimmte Leitlinien. Gibt man „Leitlinie” beziehungsweise die englische Übersetzung „guideline” gemeinsam mit einem Krankheitsbild in eine Internet-Suchmaschine ein, erzielt man oft mehrere Treffer. Leitlinien stehen Interessierten fast immer kostenfrei zur Verfügung.

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Von Forschern für die Praxis erstellt

Leitlinien sollen Ärzte, Therapeuten und Patienten dabei unterstützen, herauszufinden, welche Maßnahmen in der Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge bestimmter Beschwerdebilder angemessen sind. Es sind von Forschern systematisch entwickelte Darstellungen und Empfehlungen. Je nach Krankheitsbild können Leitlinien zum Beispiel Empfehlungen für Wirkstoffe und Dosierungen enthalten sowie für physiotherapeutische Maßnahmen und Hilfsmittel. In Leitlinien geben Forscher den zum Zeitpunkt der Veröffentlichung aktuellen Wissensstand wieder. Selbstverständlich kommt es durch den ständigen wissenschaftlichen Fortschritt und die permanent zunehmende Zahl an Publikationen stetig zu neuen Erkenntnissen. Daher ist es wichtig, dass Leitlinien aktualisiert werden, sobald sich das Wissen dazu verändert hat.

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Eine Empfehlung, kein Befehl

Doch es ist nicht der Sinn von Leitlinien, dass sich Therapeuten und Ärzte immer zu 100 Prozent daran halten. Stattdessen sollen sie diesen Berufsgruppen eine Orientierungshilfe geben, einen Behandlungskorridor aufzeigen. Die letzte Entscheidung über die Anwendung einer Maßnahme fällt weiterhin der Behandler – unter Berücksichtigung von Patientenpräferenzen, seiner Erfahrung und nicht zuletzt aufgrund seiner technischen Möglichkeiten.

Im Gegensatz dazu gibt es die Richtlinien (engl.: „directives”). Dies sind Handlungsregeln, also gesetzliche, berufsrechtliche Vorgaben. Bei deren Nichtbeachtung drohen Sanktionen – bis hin zur Abmahnung.

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Experten recherchieren und diskutieren

Im Idealfall erstellen Wissenschaftler eine sogenannte evidenzbasierte Konsensus-Leit linie. Sie beschreibt den nach einem definierten und transparent gemachten Vorgehen erzielten Konsens innerhalb einer multidisziplinären Expertengruppe. Die Grundlage dafür ist eine Literatursuche, bei der die Experten die derzeit verfügbare wissenschaftliche Evidenz systematisch recherchieren und zusammenfassen. Wenn es keine oder nur wenige qualitativ hochwertige Studien zu dem gesuchten Thema gibt, ist zur Erstellung einer Leitlinie ebenfalls ein fachlicher Konsens unter den Experten notwendig.

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Höchste Qualitätsstufe: S3

In Deutschland werden Leitlinien meist von Berufsverbänden und Fachgesellschaften entwickelt und verbreitet. Dazu gehören zum Beispiel der Deutsche Verband für Physiotherapie (ZVK), der Dachverband Osteologie und die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) (Kasten „Internet”). Die AWMF, die es seit 1962 gibt, ist ein gemeinnütziger Verein und der Dachverband von mehr als 150 deutschen Fachgesellschaften aus allen Gebieten der Medizin. Seit 1995 unterstützt die AWMF die einzelnen Gesellschaften darin, Leitlinien für die Diagnostik und die Therapie unterschiedlicher Krankheitsbilder zu entwickeln.

Internet

Unter www.leitlinien.net > „Aktu elle Leitlinien” > „Orthopädie” finden Sie die S3-Leitlinie „Koxarthrose”, die auch für Physio therapeuten relevant ist.

Die AWMF definiert drei Entwicklungsstufen von Leitlinien. Die qualitativ hochwertigste ist die S3-Leitlinie. Sie entspricht der evidenzbasierten Konsensus-Leitlinie (Tab.). Die meisten AWMF-Leitlinien haben jedoch die Entwicklungsstufe S1. Zwar ist es prinzipiell das Ziel, aus einer S1-Leitlinie heraus eine S3-Leitlinie zu entwickeln, aber der Aufwand und das benötigte Know-how (z. B. für die Evidenzbewertung der systematischen Literatursuche) sind für dieses umfangreiche Verfahren derart immens, dass daran eine Weiterentwicklung oft scheitert.

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Tab. Entwicklungsstadien: Je höher die Zahl hinter dem S, desto fundierter die Leitlinie.

Fazit: Physiotherapeuten sollten sich an S3-Leitlinien orientieren – sofern sie vorhanden sind. Doch auch Leitlinien mit niedrigerer Entwicklungsstufe können dabei helfen, die geeignete Therapie für Patienten zu finden.

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Tab. Entwicklungsstadien: Je höher die Zahl hinter dem S, desto fundierter die Leitlinie.