physiopraxis 2010; 8(2): 18-19
DOI: 10.1055/s-0030-1248926
physiowissenschaft

Wissenschaft kommentiert – Schlaganfall: Thrombose trotz Kompression

Jan Mehrholz
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Publication Date:
10 February 2010 (online)

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Das Tragen von Kompressionsstrümpfen scheint nicht verhindern zu können, dass Patienten in der Akutphase nach Schlaganfall eine tiefe Beinvenenthrombose bekommen. Das fanden Forscher in einer großangelegten Studie heraus. Für Prof. Jan Mehrholz ist diese Studie klinisch relevant, denn an ihrem Design hat er nichts auszusetzen.

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Prof. Dr. Jan Mehrholz ist Physiotherapeut und Professor für Therapiewissenschaften an der SRH Fachhochschule Gera. Zudem leitet er das Wissenschaftliche Institut der Privaten Europäischen Medizinischen Akademie für Rehabilitation der Klinik Bavaria in Kreischa.

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Fragestellung

In den drei sogenannten-CLOTS-Studien (Clots in Legs Or sTockings after Stroke) untersuchen Forscher den Zusammenhang von Beinvenenthrombosen und Kompression. Die CLOTS I-Studie geht der Frage nach, ob Kompressionsstrümpfe das Risiko senken, dass Patienten in der Akutphase nach Schlaganfall an einer tiefen Beinvenenthrombose erkranken.

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Hintergrund

Nach einem Schlaganfall erleiden die Betroffenen häufig tiefe Beinvenenthrombosen und Lungenembolien. In kleineren Studien konnten Wissenschaftler zeigen, dass Kompressionsstrümpfe das Thromboserisiko der Patienten senken können. Aus diesem Grund gibt es in manchen Leitlinien die Empfehlung, Patienten nach einem Schlaganfall Kompressionsstrümpfe zu verordnen. Die Evidenz für diese Empfehlung ist nach Meinung einiger Forscher jedoch unzureichend. Diese Studie untersuchte, ob es sinnvoll ist, Patienten nach Schlaganfall routinemäßig mit Kompressionsstrümpfen zu versorgen.

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Einschlusskriterien

In die Studie eingeschlossen waren Patienten, die einen ischämischen Schlaganfall erlitten hatten. Die Probanden konnten nicht alleine zur Toilette gehen und hatten eine Einwilligungserklärung unterschrieben. Die Aufnahme in die Studie erfolgte innerhalb der ersten Woche im Krankenhaus. Insgesamt 64 Krankenhäuser in Großbritannien, Italien und Australien nahmen an der Untersuchung teil.

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Ausschlusskriterien

Ausgeschlossen waren Patienten mit einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit oder einer diabetischen bzw. sensorischen Neuropathie. Ein weiterer Ausschlussgrund war, wenn die Betroffenen aufgrund ihres Hautzustandes keine Kompressionsstrümpfe tragen konnten oder wenn sie eine Subarachnoidalblutung gehabt hatten.

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Studiendesign

Einfach verblindete, randomisierte und kontrollierte Studie

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Intervention

Die Kontrollgruppe (n = 1.256) erhielt die übliche Routineversorgung des Krankenhauses bzw. die medizinische Standardbehandlung. Kompressionsstrümpfe bekamen diese Probanden nur, wenn eine klare Indikation dafür vorlag.

Die Experimentalgruppe (n = 1.262) erhielt ebenfalls die übliche Routineversorgung. Zusätzlich bekamen diese Probanden Kompressionsstrümpfe für beide Beine, die bis über die Oberschenkel reichten. Nachdem sie der Studienteilnahme zugestimmt hatten, mussten die Patienten die Strümpfe baldmöglichst anziehen und sie dann Tag und Nacht tragen. Die Kompressionsstrümpfe wurden abgesetzt, wenn die Probanden selbstständig auf Stationsebene gehen konnten, die Strümpfe nicht mehr tragen wollten oder wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen wurden. Auch bei beginnenden Hautulzerationen verzichtete man darauf.

Die Forscher dokumentierten täglich, wie lange die Patienten die Strümpfe getragen hatten und wie die Compliance der Teilnehmer bezüglich dieser Intervention war. Falls die Kompressionsstrümpfe abgesetzt wurden, notierten die Wissenschaftler das Datum und die Gründe dafür. Außerdem protokollierte das Forscherteam, ob die Studienteilnehmer blutverdünnende Medikamente einnahmen.

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Zielparameter

Sieben bis zehn Tage nach Studienbeginn untersuchte ein Mitarbeiter des jeweiligen Studienzentrums beide Beine der Probanden mittels einer Doppler-Sonografie. Soweit möglich, erfolgte nach 25–30 Tagen eine zweite Ultraschalluntersuchung. Der Untersucher war gegenüber der Gruppenzugehörigkeit verblindet. Der primäre Zielparameter war, ob die Probanden eine symptomatische oder asymptomatische tiefe Beinvenenthrombose in den poplietalen und femoralen Venen entwickelten. Zudem dokumentierten die Wissenschaftler, ob bei den Teilnehmern Hautschäden an den Beinen auftraten.

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Ergebnisse

Die Daten der Studie werteten die Forscher nach dem Intention-to-treat-Prinzip aus. Das bedeutet, dass sie alle 2.518 initial eingeschlossenen Patienten in die Auswertung einbezogen und in ihrer eingangs zugewiesenen Gruppe auswerteten.

Eine tiefe Beinvenenthrombose trat bei 126 Patienten der Experimentalgruppe (10 %) auf und bei 133 Patienten der Kontrollgruppe (10,5 %). Dieser Unterschied ist statistisch nicht signifikant (Absolute Risikoreduktion = 0,5 %; 95 % CI -1,9 % – 2,9 %). Hautveränderungen traten dagegen in der Experimentalgruppe mit 64 Fällen (5 %) signifikant häufiger auf als in der Kontrollgruppe (16 Fälle; 1 %) (Odds Ratio 4,2; 95 % CI 2,4 % – 7,3 %).

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Schlussfolgerung

Die CLOTS-Forschungsgruppe leitet aus den Ergebnissen ab, dass Kompressionsstrümpfe tiefe Beinvenenthrombosen nach einem Schlaganfall nicht verhindern können. Stattdessen erhöhen die Strümpfe das Risiko, dass Patienten Komplikationen wie Hautreizungen entwickeln. Die Autoren empfehlen daher, die in Schlaganfallleitlinien ausgesprochene Empfehlung für Thrombosestrümpfe zu überprüfen.

  • The CLOTS Trials Collaboration, Dennis M, Sandercock PA et al. Effectiveness of thighlength graduated compression stockings to reduce the risk of deep vein thrombosis after stroke (CLOTS trial 1): a multicentre, randomised controlled trial. Lancet 2009; 373: 1958–1965

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Kommentar

Das Design der Studie vereinfacht einen Vergleich beider Gruppen, da sich die klinische Versorgung der Patienten lediglich durch den Einsatz der Kompressionsstrümpfe unterschied.

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Randomisierung und Verblindung

Das Vorgehen bei der Randomisierung und der Verblindung ist adäquat: Die Zuweisung zu den Gruppen erfolgte verborgen über eine zentrale Stelle, und der Untersucher, der die Ultraschalldiagnostik durchführte, war hinsichtlich der Gruppenzuteilung verblindet.

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Patientencharakteristika

Die Größe der in dieser Studie untersuchten Population ist angemessen. Außerdem entspricht ihre Charakteristik durchaus der von Patienten nach Schlaganfall, die in deutschen Akuthäusern liegen. Die Basischarakteristika der Probanden dokumentierte die CLOTS-Forschungsgruppe ebenso ausführlich wie die wichtigsten prognostischen Faktoren der Patienten. Durch die große Teilnehmerzahl und die Randomisierung traten die Faktoren, die einen Einfluss auf die Entstehung einer tiefen Beinvenenthrombose haben, in beiden Patientengruppen gleichmäßig auf.

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Drop-outs, Loss to Follow-up und Einhaltung des Intention-to-treat-Prinzips

Lediglich bei drei Patienten der Experimentalgruppe (0,2 %) und bei zwei Patienten der Kontrollgruppe (ebenfalls 0,2 %) fehlten Aufzeichnungen in der Krankenakte. Bei nur 41 Probanden in der Experimentalgruppe (3,3 %) und 28 in der Kontrollgruppe (2,2 %) erfolgte keine Doppler-Sonografie, weil die Patienten nicht erschienen waren. Bei 24 Patienten der Experimentalgruppe (1,9 %) und bei 35 Patienten der Kontrollgruppe (2,8 %) war die initiale Diagnose „ischämischer Schlaganfall” falsch. Alle falsch klassifizierten Patienten werteten die Forscher dennoch unter Einhaltung des Intention-to-treat-Prinzips aus. Darüber hinaus führten die Wissenschaftler weitere sekundäre statistische Analysen durch.

Der Gesamteffekt änderte sich auch dann nicht, wenn man die Ergebnisse mit Adjustierung (also ohne Auswertung der fehlenden bzw. gestorbenen Probanden) mit denen ohne Adjustierung vergleicht (Intention-to-treat-Prinzip): Odds Ratio = 0,97 (95 % CI 0,75 % – 1,26 %, Adjustierung) gegenüber Odds Ratio = 0,98; (95 % CI 0,76% – 1,27 %, Intention-to-treat-Prinzip).

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Fazit

Die CLOTS I-Studie zeigt, dass Kompressionsstrümpfe tiefe Beinvenenthrombosen in der Akutphase nach Schlaganfall nicht verhindern können. Dagegen treten beim Tragen der Kompressionsstrümpfe häufiger Komplikationen wie Hautveränderungen auf.

Die Ergebnisse dieser Studie sind aufgrund des guten Designs klinisch relevant. Zukünftige Untersuchungen sollten zwar auch Risikopatienten einschließen, zum Beispiel die mit einem postthrombotischen Syndrom. Insgesamt scheint der Effekt von Kompressionstrümpfen jedoch sehr gering zu sein. Demnach ist es fraglich, ob das Tragen der Strümpfe für bestimmte Subgruppen von Patienten in der Akutphase nach Schlaganfall sinnvoll ist. Eine routinemäßige Verordnung dieser Strümpfe sollten die Verantwortlichen auf jeden Fall überdenken.

Die Ergebnisse von CLOTS II werden die Wissenschaftler im Mai auf einem internationalen Schlaganfallkongress in Barcelona präsentieren. In CLOTS III prüfen die Forscher den Effekt von maschineller intermittierender pneumatischer Kompression. Diese Studie ist noch nicht abgeschlossen.

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