physiopraxis 2015; 13(01): 20-24
DOI: 10.1055/s-0034-1399809
physiowissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York

Internationale Studienergebnisse


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Publication Date:
09 January 2015 (online)

Koxarthrose – Physiotherapie hat gleichen Effekt wie Placebobehandlung

Physiotherapeuten behandeln Patienten mit Koxarthrose, um Schmerzen zu lindern und die Funktion zu verbessern. Aber hat die Therapie auch den erwünschten Effekt? Womöglich nicht, wie Prof. Kim Bennell, Physiotherapeutin aus Melbourne, herausfand, nachdem sie die „echte“ Physiotherapie mit einer Placebobehandlung verglichen hatte.

Bennell und ihre Kollegen rekrutierten 102 Probanden mit einer radiologisch gesicherten Koxarthrose, die folgende Parameter erfüllten:

  • > älter als 50 Jahre

  • > länger als drei Monate Leisten- oder Hüftschmerzen

  • > durchschnittliche Schmerzintensität von ≥ 40/100 (VAS) in der letzten Woche

  • > zumindest moderate Einschränkung im Alltag

Die Wissenschaftler randomisierten die Teilnehmer in zwei Gruppen. Eine erhielt eine Placebotherapie, die andere „echte“ Physiotherapie. Die Probanden waren zwar darüber informiert, dass die Forscher Physiotherapie mit einer Scheinbehandlung vergleichen würden, wussten aber nicht, welcher Behandlungsgruppe sie zugeteilt waren.

Über 12 Wochen erhielten die Probanden zehn Behandlungen. Die ersten zwei Termine dauerten jeweils 45–60 Minuten, die restlichen 30 Minuten. Die Teilnehmer der Physiotherapie-Gruppe bekamen ein Standardprogramm bestehend aus Techniken der manuellen Therapie (Manipulation, Mobilisation, Weichteiltechniken, Dehnungen), vier bis sechs Heimübungen (Kräftigung der Hüft-gelenkabduktoren und des Quadrizeps, Dehnungen und Beweglichkeitstraining, funktionelle Gleichgewichts- und Gangübungen) sowie Aufklärung und Beratung. Daneben hatten die Behandler die Möglichkeit, zusätzliche individuelle befundorientierte Maßnahmen einzusetzen. Im Anschluss an die Therapie sollten die Patienten ihr Heimprogramm sechs Monate lang dreimal wöchentlich weiter absolvieren.

Die Teilnehmer der Placebogruppe erhielten Schein-Ultraschall durch einen Physiotherapeuten. Außerdem applizierte der Therapeut ein Gel ohne medizinischen Wirkstoff (eine Handcreme) auf die Hüftgelenkregion. Dieses Gel trugen die Studienteilnehmer auch nach dem Interventionszeitraum für weitere sechs Monate dreimal wöchentlich auf die betroffene Hüftgelenkregion auf.

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Ein Programm, bestehend aus Übungen, manueller Therapie und Beratung, und eine Placebobehandlung mit Ultraschall und Handcreme halten sich bei der Therapie einer Koxarthrose von der Wirksamkeit her die Waage. Ein ernüchterndes Fazit für die Physiotherapie.
Abb.: nmcandre, kaitingus/istockphoto.com
Abb.: koya979, Praisaeng/shutterstock.com

Zu Beginn der Untersuchung und nach 13 Wochen untersuchte ein verblindeter Therapeut alle Patienten. Anhand diverser Fragebögen und Tests beurteilte er unter anderem die durchschnittliche Schmerzstärke, die allgemeine Funktion der Hüfte, die Beweglichkeit des Hüftgelenks, die Kraft der hüftumgebenden Muskulatur, die Gehgeschwindigkeit, das Gleichgewicht und die Lebensqualität. Nach 36 Wochen füllten die Probanden die Fragebögen nochmals aus.

Schmerz und Funktion verbesserten sich in einem klinisch relevanten Ausmaß in beiden Gruppen gleichermaßen. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen nach 13 und 36 Wochen war allerdings – bis auf einen Balancetest – nicht signifikant. Da die Expertise der involvierten Therapeuten sowie die Adhärenz der Patienten als „hoch“ eingestuft wurden, stellt diese methodisch gute Studie die spezifische Wirkung von Physiotherapie bei Patienten mit Koxarthrose in Frage.

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JAMA 2014; 311: 1987–1997

KOMMENTAR – Gang zum Therapeuten wichtiger als Therapie selbst
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Prof. Kim Bennell ist selbst Physiotherapeutin. Dementsprechend enttäuscht zeigte sie sich in Interviews über das Ergebnis ihrer Studie. Die Hypothese zu Beginn der Studie war, dass die Physiotherapie in Bezug auf Schmerzreduktion und Funktionsverbesserung bei Koxarthrose überlegen sei. Dies hat sich allerdings nicht bewahrheitet.


Warum das so war, ist Spekulation. War das Therapieprogramm nicht lange, intensiv oder spezifisch genug? Hatten die Therapeuten während der Placebobehandlung mehr Zeit zuzuhören und die Patienten positiv zu stimmen? Wie auch immer – Fakt ist, dass der Kontakt zum Therapeuten wichtiger sein könnte als die eigentliche Therapie.


Dr. Norman Swan von ABC (einem Radiosender Australiens) und Jim Michalski vom JAMA (Journal of the American Medical Association) fühlten Prof. Bennell auf den Zahn bezüglich der Aussagekraft und der Konsequenzen der Studie. Sie betonte in den Interviews, dass sich beide Gruppen signifikant verbesserten. Aus früheren Studien sei zudem bekannt, dass Patienten mit Koxarthrose, die über einen vergleichbaren Zeitraum keine Therapie bekamen, keine Verbesserungen zeigten. Somit sei „abwarten und Tee trinken“ bei Koxarthrose keine Option. Diese Patienten würden eindeutig von Physiotherapie profitieren. Es zeige sich jedoch, dass die Vorteile der Therapie nicht unbedingt auf den Effekt einer spezifischen Technik zurückzuführen sind, sondern auf eher unspezifische, indirekte Wirkungen, die durch den bloßen Kontakt zu einem Therapeuten entstehen. Die Therapeuten hätten sich Zeit genommen, die Patienten berührt und mit ihnen geredet. Besonders bei komplexen Outcomes wie Schmerz würden die Erwartungen der Betroffenen eine große Rolle spielen. Da die Probanden in der Studie nicht gewusst hätten, ob ihre Therapie die „echte“ war, seien in beiden Gruppen Erwartung und Vertrauen hoch gewesen.


Eine provokante Frage von Dr. Swan brachte Dr. Bennell in Erklärungsnot: „Muss die Behandlung unbedingt ein gut ausgebildeter Therapeut ausführen? Kann nicht auch ein empathischer Mensch den Job übernehmen?“ Überzeugend entkräften konnte sie diese Frage meiner Meinung nach nicht. Sie betonte die Notwendigkeit einer guten Ausbildung für Befund, Therapie und Kontrolle der Übungen. Sie halte zudem nichts davon, aus der Studie zu schließen, dass Therapeuten überflüssig sind. Trotzdem bleibt auch nach Dr. Bennells Ausführung ein gewisser Nachgeschmack, dem sich die Therapeuten stellen müssen.


Im Gespräch mit Jim Michalski kam zum Schluss die Frage auf: „Wie geht es weiter?“ Dr. Bennell betonte, dass eine Forschung in Richtung Subgruppenbildung in Zukunft hilfreich sei, um aus der bisher scheinbar homogenen Gruppe „Hüftarthrose“ diverse Untergruppen zu bilden. So könnte man herausfinden, welche Strategie fürweiche Sub-gruppedie beste sei. Manche würden eventuell besser auf ein eher körperlich, andere eher auf ein psychologisch ausgerichtetes Programm reagieren.


Wir können also gespannt sein, welche Ergebnisse in Zukunft aus Melbourne kommen, und bis dahin unsere „Hands-on“- und „-off“-Techniken sowie unsere Kommunikationsfähigkeiten möglichst optimal mischen.


Stephanie Moers


Das Interview mit Dr. Swan finden Sie unter bit.ly/lnterview_Swan. Über den QR-Code gelangen Sie direkt dorthin.

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