Zeitschrift für Phytotherapie 2012; 33(5): 207
DOI: 10.1055/s-0032-1330962
Editorial
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Phytotherapie - etwas breiter verstanden!

Rainer Stange

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Publication Date:
05 November 2012 (online)

Die Aussichten, einen Krieg in tropischen Regionen zu gewinnen, hingen früher sehr stark von der Verfügbarkeit von Chinarinde zur Malariatherapie und damit der Einsetzbarkeit malariafreier Soldaten ab. Identifizierung und Herstellung von wirksamen Naturstoffen sind spätestens seitdem ein vorherrschendes globales Gesundheitsthema.

Gut 260 Jahre sind seit der Aufnahme des Einjährigen Beifußes Artemisia annua L. in Linnés Species Plantarum vergangen, nur 20 Jahre, seit die Grundlagenforschung in dieser Heilpflanze der Traditionellen Chinesischen Medizin Artemisinin als den wirksamen Bestandteil gegen Malaria entdeckt hat.

Heute ist weniger die Wirksamkeit als die preisgünstige und qualitativ hochwertige Verfügbarkeit des Artemisinins die drängendste Frage. Millionen unterversorgte Patienten, die überwiegend in armen Ländern leben, waren der Ansporn zur Entwicklung einer semisynthetischen Darstellung des Artemisinins (s. Infos S. 244) aus der reichlich vorhandenen Artemisininsäure.

Für Puristen ist das Endprodukt kein typisches Phytopharmakon mehr. Vielleicht müssen wir unsere Sichtweise ändern und uns an ein Kontinuum gewöhnen von der Anwendung ganzer Pflanzenbestandteile in Form von Nahrungsmitteln, Gewürzen usw. über die schon differenziertere Teeanwendung, die vielen möglichen Gesamtextrakte bis zur Darstellung einer oder nur weniger als wirksamkeitsbestimmend erachteter Verbindungen in ausgewählten Teilen der Pflanze.

Jeder Medizinstudent lernt immer noch, dass die meisten wichtigen pharmakologischen Entwicklungen in der Natur ihren Anfang nahmen und oft, bei Weitem nicht immer, durch analytische und synthetische Techniken in einer ökonomisch günstigeren, besser dosierbaren und besser verträglichen Applikationsform zur Verfügung gestellt wurden - das Traumbild der pharmazeutischen Industrie von der Pflanze zum Endprodukt Pille. Gelegentlich können Träume auch in Erfüllung gehen; das sollte man konzedieren, ohne seine Blickschärfe für die sicherlich viel häufigeren Fehlentwicklungen zu verlieren!

Die Bittermelone Momordica charantia L., eine nahezu weltweit verbreitete Frucht mit auch Heilpflanzencharakter in vielen asiatischen Traditionen, steht gerade am Anfang einer solchen Entwicklung. Gesamtauszüge hatten in klinischen Studien nicht überzeugt, deshalb gibt es in keinem Land mit westlichem Zulassungsstandard ein Phytopharmakon aus Bittermelone für Diabetes mellitus. Aber es finden sich jetzt hoffnungsvolle molekulare Kandidaten, die z.B. in angereicherten Extrakten stärker konzentriert und wirksam werden könnten. Der Massenmarkt ist ähnlich wie bei Malaria garantiert - auch wenn es völlig verschiedene Bevölkerungen sind.

Die nach längerer interner Diskussion erarbeitete und auf manchen Leser vielleicht etwas konservativ wirkende Stellungnahme der Gesellschaft für Phytotherapie e.V. (GPT) zu »Botanicals« (s. S. 240 f) steht nicht im Widerspruch hierzu. Es gilt vielmehr, angesichts ausufernder Produktpaletten den Blick dafür zu schärfen, was man vor sich hat und dementsprechend Herkunft, Inhaltsstoffe, klinische Überprüfung, Sicherheit, Rezeptierbarkeit zulasten eines Kostenträgers und vieles mehr einer Pflanze oder ihrer Bestandteile zu beurteilen. Das macht die Phytotherapie sicherlich nicht leichter! Aber wenn pflanzliche Materialien als Ausgangs- oder Endprodukt das therapeutische Geschehen hier und anderswo mehr bestimmen sollen - ein erklärtes Ziel dieser Zeitschrift und der ihr nahestehenden Fachgesellschaft GPT - müssen komplizierte Erkenntnisse gewonnen und eingesetzt werden. Damit ausreichend geschulte Persönlichkeiten aus den Kreisen der Ärzte wie der Apotheker diese Aufgaben übernehmen können, werden in Kürze ganz neue Weiterbildungen aufgelegt, die z. B. den Anteil Phytotherapie in der ärztlichen Weiterbildung für die Zusatzbezeichnung »Naturheilverfahren« weit übertreffen. Schauen Sie in die nächsten Ausgaben dieser Zeitschrift!